Weltenbrand

Dokument 62

Ende 1914 ist die militärische Zwischenbilanz der k.u.k. Armee im Feldzug gegen Russland und Serbien niederschmetternd. Neben gewaltigen Verlusten an Mensch und Material heizen Repressalien gegen die Zivilbevölkerung die ethnischen Konflikte weiter auf.

Im Hochsommer 1914 weitete sich die Konfrontation der Habsburgermonarchie mit den Südslawen – der Logik und Mechanik des komplexen internationalen Bündnissystems gemäß – zu einem „Weltenbrand“ aus. Die Nationalisierung der Massen hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert die Jugoslawen mit eruptiver Gewalt erfasst; Ziel war die überwindung der (spät-)feudalen Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation sowie die Beseitigung der nationalen Zersplitterung und Fremdherrschaft. In Slowenien dominierte eine deutsche, in Dalmatien eine italienische, im Banat und der Batschka eine magyarische Oberschicht, in Serbien türkische Spahis und in Bosnien muslimische Begs. Kroatien war wenig mehr als ein mit zynischer Korruption und brutaler Gewalt regiertes ungarisches Paschalik – die Kroaten fanden sich vereint in der unversöhnlichen Gegnerschaft sowohl zur magyarischen Herrenklasse als auch zum Wiener Hof, der ihre nationalen Interessen nach 1848 dem Ausgleich mit Ungarn geopfert hatte [Kakanien]. An demselben 7. Dezember 1914, an dem die k. u. k. Armee hinter die Kolubara zurückgeworfen wurde, deklarierte die serbische Regierung in Niš erstmals die „Befreiung und Vereinigung aller unserer geknechteten Brüder: Serben, Kroaten und Slowenen“ als ihr Kriegsziel.

Der kriegerischen Auseinandersetzung mit dem äußeren Feind entsprach eine blutig geführte Offensive im Inneren, die Monarchie führte Krieg gegen die eigenen Staatsbürger. Loyalität und Patriotismus mussten erzwungen werden, die Militärgerichte fällten täglich sogenannte „Bluturteile“ gegen tschechische Soldaten und tschechische Zivilbevölkerung gleichermaßen, ein dichtes Spitzelwesen zur Denunziation wurde aufgezogen, gegen tschechische Literatur und Denkmäler liefen förmliche Konfiskationswellen. Wie auf tschechischem, so agierte die Militärmaschinerie auch auf südslawischem Gebiet: Jeder slawische Soldat oder Reservist in den Reihen der multinationalen Habsburgerarmee galt dem österreichischen und ungarischen Offizierskorps als potenzieller Verräter; Studenten, orthodoxe Popen, des jugoslawischen Patriotismus verdächtige Intellektuelle, Lehrer wie einfache, der Schrift unkundige Bauern wurden sonder Zahl ohne Gerichtsverfahren exekutiert, in Geiselhaft genommen oder in eigens eingerichtete Internierungslager verschleppt. Gleiches geschah in Galizien. Als die russischen Heere im Osten des Landes eindrangen – so Otto Bauer in seiner präzisen Bestandsaufnahme „Die österreichische Revolution“ –, habe der ruthenische Bauer nicht verstanden, warum er im sprach- und religionsverwandten kleinrussischen Kosaken seinen Feind, im plündernden magyarischen Honvéd-Husaren aber seinen Beschützer zu sehen habe. „Die Standgerichte der k. u. k. Armee hatten dieses politische Unverständnis der ruthenischen Bauern blutig gestraft. Seitdem grollte es in den Bauernmassen.“

Die unangemessene und durchaus kontraproduktive Rigorosität des Vorgehens vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung, die aus einer regelrechten Kriegspsychose erwachsene Spionagehysterie lagen ganz wesentlich in dem an Dramatik kaum zu überbietenden Scheitern der österreichisch-ungarischen Armeen in den Herbstmonaten des Jahres 1914 begründet. Weitgehend der vormodernen Kriegsführung verhaftet, waren die großen Offensiven des Feldzeugmeisters Potiorek gegen Serbien gleichermaßen wie der in Galizien gegen das zaristische Russland geführte Angriff furchtbar zusammengebrochen. Paradigmatisch geradezu war der „galizische Schock“: Man fand sich in aussichtsloser Auseinandersetzung mit einem an Ausrüstung, Mannschaftsstärke und Munitionskraft eklatant überlegenen Gegner wieder, der aus seinem ein Jahrzehnt davor gegen Japan erlittenen Debakel genaue Lehren gezogen hatte.

Schon nach wenigen Monaten hat die in vier Armeen aufgebotene kaiserlich-königliche Streitmacht an der Nordostfront den Charakter einer lediglich besseren Miliz angenommen. Von geschätzt 50.000 eingerückten Offizieren waren ca. 22.000 durch Tod, Verwundung, Krankheit oder Gefangenschaft ausgefallen, bis Ende 1914 drei Viertel aller ausgebildeten Soldaten. Ganze Divisionen waren halbiert und auf Bataillonsstärke, ganze Regimenter auf Kompaniestärke dezimiert, einzelne Einheiten de facto ausgelöscht worden. Insgesamt verzeichnete man im ersten Kriegsjahr in Serbien, in Galizien und in den Karpaten exorbitante Verluste und Ausfälle in der Höhe von rund 1,8 Millionen Soldaten, wodurch das alte Berufsheer förmlich zertrümmert war. Solche Verluste konnten bis Kriegsende vor allem in den höheren Rängen nicht mehr hin- länglich kompensiert werden. Vielleicht, so resümiert Joseph Szebenay 1916 im britischen Exil, habe noch niemals ein Kampfverband so unter der militärischen wie medizinischen Inkompetenz seiner Führungsebenen gelitten wie die k. u. k. Armee in den ersten Monaten dieses Kriegs. Es sei dies einer fortschreitenden Vernichtung von Menschenleben in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit gleichgekommen.

– Wolfgang Maderthaner –

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"An meine Völker"

Dokument 62

Von Kaiser Franz Joseph I. unterzeichnetes Konzept des kaiserlichen Manifestes „An meine Völker“ anlässlich der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. 28. Juli 1914, Bad Ischl.

Kriegs­er­klärung und Telegramm

Dokument 62

Kaiser Franz Joseph stimmt dem Entwurf der Kriegserklärung an Serbien zu. 28. Juli 1914, Bad Ischl.