"Die Suche nach dem Österreichischen führt uns unweigerlich ins Archiv“
Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des österreichischen Staatsarchivs
Der Hofrat der Revolution
Dokument 51
Victor Adler ist einer der drei Köpfe des Republikdenkmals an der Ringstraße neben dem Parlament: Spross des jüdischen Wiener Großbürgertums, Arzt, charismatischer Gründervater der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Gründer der Arbeiter-Zeitung, Reichsratsabgeordneter, Mitglied der provisorischen Regierung. Er verstirbt am Vorabend der Republikgründung im November 1918.
Der jüdisch-bürgerliche, freisinnige Intellektuelle Victor Adler darf als eine geradezu paradigmatische Figur der Wiener Moderne gelten: Da ist der begüterte, in Prag geborene Sohn einer nach Wien übersiedelten und kommerziell erfolgreichen Handelsfamilie; der junge antihabsburgische, den republikanischen Idealen der 1848er-Revolution verpflichtete Deutschnationale, der zum Protestantismus konvertiert, um sich und seinen Kindern das „Entree-Billett“ zur deutschen Kultur zu eröffnen; der jüdisch-assimilierte, fanatische Schopenhauer-Verehrer, der einen erlesenen Kreis junger Künstler und Intellektueller um sich schart; der Mediziner, der – wie Sigmund Freud nach ihm – bei dem Gehirnphysiologen Meynert Assistent wird und bei dem Pariser Psychopathologen Charcot studiert; der Armenarzt, der in seiner Praxis in der Berggasse 19 (späterhin die berühmte Adresse von Freuds Ordination und Privatwohnung) täglich mit einem unsäglichen Proletarierelend konfrontiert wird; der Zeitungsherausgeber, der mit aufrüttelnden Sozialreportagen über das Los der Ziegelarbeiter und der Tramwaybediensteten einen direkten Blick in einen für undenkbar gehaltenen sozialen Abgrund nur wenig abseits des Ringstraßenglanzes eröffnet; der Gründer und Organisator einer demokratischen Massenpartei neuen Stils, die er zu einer im innerösterreichischen Vergleich unerreichten Durchschlags- und Mobilisierungskraft führt; der Dandy, Gesellschaftslöwe, Stammgast literarischer Salons und gelegentliche Gast des Casinos in Monaco; da ist schließlich der elder statesman, der als Außenminister den „verbliebenen Rest“ der Monarchie in eine demokratische Republik überführt und einen Tag vor deren Ausrufung stirbt.
Als überzeugter Aufklärer und Rationalist hatte Victor Adler eine Konzeption der Modernisierung und der Zivilisierung der Massen entworfen und doch auch stets, als passionierter Wagnerianer, „das Volk“ als Gesamtkunstwerk zu inszenieren versucht; wie überhaupt sein Wirken und seine Politik ihre prinzipielle Grundlegung zu einem wesentlichen Teil in der ästhetischen Religion Richard Wagners fanden. Nichts war für ihn inspirierender als Wagners Vision einer großen Menschheitsrevolution als Befreierin des Volkes von allen seiner „natürlichen“ Bestimmung feindlichen gesellschaftlichen Hemmnissen. So ist in Adlers Reden eine intensive, vertraute Nähe zu den programmatisch-theoretischen Schriften Wagners immer wieder angeklungen. Das Volk, so Adler, müsse mehr verlangen als bloß die Beseitigung des physischen Elends – das Recht auf die „Frucht der Arbeit“, das Recht auf Schönheit, Gesundheit, Wissen: „Das Höchste unserer Solidarität, die Begeisterung für die heilige Sache, um die sich die Masse brüderlich schart – davon kann man nicht sagen, davon muß man singen.“
Adler verkörperte und repräsentierte somit – auch und gerade als exponierter Sozialdemokrat, als, wie er Friedrich Engels gegenüber einmal ironisch bemerkte, „Hofrat der Revolution“ – vieles von dem, was ein akkulturiertes und assimiliertes großbürgerliches Wiener Judentum in seiner sozialen Qualität und kulturellen Signifikanz ausmachte. In seiner Studienzeit war er, wie Freud auch, führendes Ausschussmitglied des von Franz Ritter von Liszt gegründeten Lesevereins der deutschen Studenten Wiens – des intellektuellen Zentrums der rebellierenden deutschnationalen Jugend – gewesen. Der Nachhall der bürgerlichen Revolution von 1848, die Ideale der radikalen Demokratie, der allgemeinen bürgerlichen Freiheiten und der deutschen Einigung schlugen diese Jugend in ihren Bann; andererseits war Adler von der mit 1873 einsetzenden ökonomischen Depression und der damit korrespondierenden gesellschaftlichen Stagnation und Krise des politischen Liberalismus geprägt.
Als Mitte der 1880er-Jahre ein wesentlicher Teil der deutschnationalen Bewegung unter Georg Ritter von Schönerer den Rassenantisemitismus zum politischen System ausbaut, findet Adler den Weg zu einer sich neu formierenden Sozialdemokratie – und bringt qualitativ neue Konzepte des Politischen mit ein: Massenorganisation und Massenpartei, demokratisch-konstitutionelle Strategie, gesellschaftliche Modernisierung. Die Sozialdemokratie habe die Interessen der ganzen Nation zu repräsentieren und der Arbeiterschaft im Wege der Befreiung aus ihrer sozialen Not den Zugang zu den Gütern der nationalen Kultur zu eröffnen. Die „Revolutionierung der Gehirne“, so Adler, sei die eigentliche Aufgabe, das nächste Ziel der Sozialdemokratie: eine Utopie des Egalitären, zu deren Umsetzung es einer Meisterschaft in Strategie und alltagspolitischer Taktik bedurfte und deren Grundvoraussetzung zunächst einmal die Eroberung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts war [Frei, gleich, männlich].
– Wolfgang Maderthaner –
Korrespondenz zwischen Victor Adler und Friedrich Engels
Dokument 51
Dokument 51
VGA, Brief: Adlerarchiv, M113-T1
Korrespondenz zwischen Victor Adler und Friedrich Engels
Dokument 51
(Auszug aus dem Brief Victor Adler an Friedrich Engels vom 25. August 1892, Lunz am See. )
(...)Aber die Kritiker der Taktik glauben immer, sie sei, oder könne sein eine gerade Linie, während sie eine Wellenlinie sein muß, gerade wie die Weltgeschichte. Im Uebrigen meine ich, die Opposition von links müßte erfunden werden, wenn man sie nicht hätte; nur würde man sie um eine Nuance gescheiter u anständiger erfinden. Denn die Kleinbürgerei ist die größte Gefahr für uns u wenn August nicht wäre, stünde es böse mit uns, auch mit uns in Oesterreich. Die Trägheit des Geistes ist die ärgste Gefahr für unsere Leute. Ich meine immer, der Krach wird uns über den Hals kommen, wenn wir „Hofräte der Revolution" am wenigsten daran denken. Obwol ich freilich gerne wüßte, warum Du gerade das Jahr 1898 genannt hast!! Ich stecke hier in solchen Verhältnissen, daß ich vor einer vorzeitigen Explosion am Meisten fürchte; sie würde uns um Jahrzehnte zurückwerfen. Bleiben wir ungestört, dann werden wir keine üble Rolle spielen. Unser Volk - Deutsche u Tschechen, mit den anderen ist nicht viel los - ist geradezu glänzend veranlagt u nur die verdammte Jesuiterei durch Jahrhunderte macht, daß wir als Anhängsel u Nachtrab der europäischen Bewegung figuriren. Die ökonomische Rückständigkeit des Landes schwindet, man kann sagen, stündlich mehr u wir haben den Vorzug, daß unser Proletariat durch die Nachbarschaft Deutschlands der ökonomischen Entwicklung geistig voraus ist.(...)
Die „Hofräte der Revolution“
Dokument 51
Victor Adler und Friedrich Engels
Dokument 51
VGA, Fotoarchiv der Arbeiterzeitung