Die Krise einer Kultur

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Die politische Krise der späten 1920er-Jahre wird angeheizt durch die ökonomische: Die globale große Depression ab Oktober 1929 mit all ihren sozialen und psychologischen Folgewirkungen raubt Arbeit, Erspartes, Perspektiven. Die Regierung setzt auf autoritäre Lösungsmuster.

Die Erste Republik wurde in den Jahren der „Großen Depression“ destabilisiert und schließlich zerstört. Die tief greifenden ökonomischen und psychologischen Umwälzungen der Krisenjahre betrafen alle Schichten und Klassen und führten zu einer wesentlichen Veränderung des politischen und kulturellen Mechanismus.

Von 1929 bis 1933 verringerten sich das Bruttonationalprodukt um ein Viertel, der Produktionsindex um ein Drittel, die Indexziffer des allgemeinen Geschäftsgangs fiel von 100 auf 59. Löhne und Gehälter erreichten 1934 nur mehr 70 Prozent ihres Niveaus von 1929. Die industrielle Produktion fiel vom Einsetzen der Krise bis zum Tiefpunkt 1933 um beinahe 40 Prozent; in der Eisenindustrie, einem zentralen wirtschaftlichen Leitsektor, war der Auftragsstand bis November 1932 auf ganze acht Prozent der Normalauslastung zurückgegangen. Die Arbeitslosigkeit betraf zu diesem Zeitpunkt 557.000 Menschen, das ist eine Arbeitslosenrate von etwa 26 Prozent; andere Schätzungen gehen, unter Einbeziehung der Ausgesteuerten, von einer Zahl von über 700.000 (also mehr als 38 Prozent) aus. Mithin war ein Drittel der Gesamtarbeiterschaft aus dem Produktionsprozess ständig ausgeschlossen, Ende 1934 bezogen nur mehr 40 Prozent der Arbeitslosen eine reguläre oder eine Notstandsunterstützung. Noch dramatischer stellte sich die Situation bei den Industriearbeitern dar. Hier waren Anfang 1934 44,5 Prozent ohne Arbeit; ein beträchtlicher Teil der noch in Arbeit Stehenden (1933: 38 Prozent) war gezwungen, Kurzarbeit zu verrichten. Doch auch die Angestelltenschaft war massiv betroffen: 1933 kamen hier auf eine freie Bürostelle 18 Personen ohne Anstellung. Die Bevölkerung ganzer, ehemals blühender Industrie- und Gewerberegionen verarmte, strukturelle Dauerarbeitslosigkeit wurde zur Massenerscheinung.

Wie aufseiten der Arbeiterschaft kam es unter dem Druck der Krise auch innerhalb der bürgerlichen und bäuerlichen Schichten zu bedeutenden Veränderungen. Seit dem Weltkrieg waren große Kapitalien entwertet und zerstört worden, so etwa in der Inflationsperiode die Rentierkapitalien; mit der Geldwertstabilisierung begannen sich die Schieber- und Spekulationsgewinne zu zersetzen. Der drastische Einbruch in der Konsumnachfrage ließ die Anzahl von gerichtlichen Ausgleichen und Konkursen bei Handels- und Gewerbebetrieben bis 1932 auf mehr als das Doppelte gegenüber 1929 steigen. Zudem hatten Preisund Absatzkrise die Verschuldung bäuerlicher Betriebe sprunghaft in die Höhe getrieben: Bis 1933 betrug sie mehr als die Hälfte der jährlichen Marktproduktion.

Die Industrie steckte in einer Art Dauerkrise: Die Vernichtung des Sparkapitals und der Verlust ihrer Betriebskapitalien in der Phase der Hyperinflation hatten ihre Probleme nachhaltig verschärft, die Kreditzinsen hielten sich nach der Stabilisierung auf einem exorbitant hohen Niveau. Unter den Industrienationen war Österreich das einzige Land mit schrumpfender industrieller Produktion: Bis 1933 war der Export auf 57 Prozent seines Volumens aus dem Jahr 1920 gesunken. Die fehlende Selbstfinanzierungskraft der Industrie, ihre dauerhafte Schwäche hat wesentlich zur weiteren Zersetzung der Gesellschaft beigetragen. Der Industriekrise folgte die Krise des in der Inflationszeit enorm aufgeblähten österreichischen Bankwesens. Der Zusammenbruch der Creditanstalt (CA) 1931 gab dann den Anstoß für das Ausbrechen einer weltweiten Kreditkrise. Die CA war die größte mitteleuropäische Bank, seit der Übernahme der Bodenkredit kontrollierte sie 70 Prozent der Industrie- und Großhandelsunternehmungen. Ihre Sanierung machte die Beteiligung von Staat und Nationalbank erforderlich, die Regierung übernahm die Haftung für alle in- und ausländischen Einlagen, die Verlustsumme belief sich auf mehr als zehn Prozent des Bruttonationalprodukts von 1931. Die Folgen der CA-Krise auf dem Währungssektor, am Kreditmarkt, in der Produktionssphäre und für die Staatsfinanzen waren fatal. Sie führten zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die ihrerseits eine Verschärfung der Krise und eine noch schnellere Deflationsspirale bewirkten.

Das Krisenszenario zog autoritäre Experimente nach sich: Die Entmachtung der Arbeiterbewegung, die Gleichschaltung der Gewerkschaften und der weitgehende Abbau von sozialen Rechten wurden zu einer immer konkreteren Krisenlösungsstrategie des bürgerlichen Regierungslagers. Lohndruck und Beseitigung des Sozialsystems sollten ohne die Störfaktoren einer immer noch mächtigen parlamentarischen Opposition und einer sozialdemokratischen Vormachtstellung auf Wiener Kommunalebene die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit wiederherstellen. Unter Ausnutzung der reaktionären Konjunktur dieser Jahre durchbrach die Regierung Dollfuß die parlamentarisch-demokratische Form ihrer Herrschaft in dem Augenblick, als die „nationale Revolution“ in Deutschland siegreich war.

– Wolfgang Maderthaner –

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"Rettung" der Creditanstalt

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Der Zusammenbruch der Creditanstalt 1931 verschärfte die Weltwirtschaftskrise in einem enormen Ausmaß. Zur Rettung der Bank mussten Gelder in der Höhe eines Zehntels des österreichischen Bruttoinlandsproduktes aufgewendet werden. Vorschussvereinbarung mit der Bank von England. 12. August 1931.

Auswirkungen der Wirtschaftskrise

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Sogenannte „Koksklauberinnen“ in der Leopoldau. 1931, Wien.

Massenarbeitslosigkeit

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Am Höhepunkt der Großen Depression herrschte eine niemals zuvor gekannte Massenarbeitslosigkeit. Ein Großteil der Arbeitslosen war „ausgesteuert“, bezog also keinerlei Unterstützung mehr. 1. August 1933, Wien.

Zusammenbruch der Creditanstalt

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Übereinkommen zwischen der Republik Österreich und einem Internationalen Gläubigerkonsortium (bestehend aus Commercial National Bank and Trust Company, USA, Banque Ottomane, Frankreich, Aktiengesellschaft für Montanwerte Schweiz, Banco die Roma in Istanbul, Reichsbank in Berlin, Istituto Italiano di Credito Marittimo in Rom, Banca Commerciale Italiana in Mailand, Banque de Paris et des Pays-Bas in Paris und Genf, Eidgenössische Bank in Zürich und St. Gallische Kantonalbank) zur Rekonstruktion der Creditanstalt. 16. Juni 1931, Wien.