Modern times #3

Dokument 33

Mit dem Untertanenpatent von 1781 rüttelt Joseph II. an jahrhundertealten Ketten der hörigen Bauernschaft: Die Einräumung von Grundrechten und die Befreiung von grundherrlicher Gerichtsbarkeit und von Frondiensten sind Spiegel des Willens zum Anstoß gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels.

Mit der blutigen Niederwerfung ihrer Aufstände hatte die Bauernschaft aufgehört, historisch wirkende Macht zu sein, ihre persönlichen Rechtsverhältnisse unterlagen empfindlichen Verschlechterungen [Der Kampf um Wald und Weide]. Erst das „absolutistische“ theresianisch-josephinische Reformprogramm entwickelt effektive Schutzmaßnahmen in Bezug auf Besitz und Arbeitskraft der Bauern. Sobald die Macht der Stände gebrochen und der Landesfürst nicht länger von deren Steuerbewilligungsrecht abhängig war, konnten der immer stärkeren Ausbeutung der bäuerlichen Arbeitskraft wirksame Schranken gesetzt werden. Zudem erzwingen erneute, durchaus bedrohliche bäuerliche Revolten (während der 1770er-Jahre vornehmlich in Böhmen) Gesetze zum Schutz der Bauern, die sich in erster Linie gegen das sogenannte „Bauernlegen“ – die Enteignung der Bauern durch ihre Grundherren – richten und die bäuerliche Abgabe- und Fronpflicht regulieren. Des Weiteren erfährt die ehedem beinahe unbegrenzte grundherrliche Autorität und Verfügungsgewalt bedeutende Einschränkungen: Neben die herrschaftliche tritt die staatliche Obrigkeit, die nunmehr durch ihre Bürokratie (Kreisämter) die Rechtsverhältnisse der Landbevölkerung regelt.

Vorrangiges Ziel merkantilistischer Wirtschaftspolitik ist die Förderung und rasche Entwicklung der kapitalistischen Manufaktur und der Montanindustrie, deren beschleunigtes Wachstum eine entsprechende Hebung der Steuerkraft des Landes zu garantieren versprach. Die Absorbierung und Mobilisierung der ländlichen „Überschussbevölkerung“ und der unterbäuerlichen Schichten für die industrielle Entwicklung aber setzt die Befreiung von den schwersten Fesseln der Erbuntertänigkeit voraus: Die Patente Josephs II. aus den Jahren 1781 und 1782 – häufig und nicht ganz korrekt als „Abschaffung der Leibeigenschaft“ bezeichnet – begründen eben diese Form von Beweglichkeit. Sie gewähren der bäuerlichen Bevölkerung Freizügigkeit; sie gewähren die Freiheit der Berufswahl, der Verehelichung, des Eigentumserwerbs und der Verschuldung ohne obrigkeitliche Zustimmung und verbieten die Zwangsgesindedienste der Bauernkinder bzw. beschränken diese ausschließlich auf Waisen.

Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Seit dem 15. Jahrhundert wurden der ländlichen Bevölkerung nach und nach der traditionelle Gemeinschaftsbesitz – der „gmain“ – und die althergebrachten Nutzungsrechte an Wald und Weide entzogen, wodurch ein dörfliches, unterbäuerliches Proletariat entstand [Der Kampf um Wald und Weide]. Der josephinische Staat, der den individuellen Besitz der Bauern eigentlich schützt, treibt durch seine Reformen diesen Prozess zugleich weiter voran, und die sozialen Konsequenzen sind enorm: die breite Formierung einer existenziell gefährdeten, daher disponiblen und „freien“ Arbeitskraft. Damit aber wird die eigentliche historische Agenda des Josephinismus erkennbar: den Anstoß zu geben für die Etablierung einer „modernen“ industriell- bürgerlichen Gesellschaft, die Elemente einer künftigen, auf dem Kapitalverhältnis beruhenden sozialen Organisation freizusetzen – mit einem Wort, Schrittmacher für eine bürgerliche Gesellschaft zu sein, die auf konzentriertem Kapitalbesitz, individuellem Grundeigentum und freier Lohnarbeit beruht.

Der empörte Aufschrei der feudalen Eliten ist allgegenwärtig und mündet in wüstem Boykott – dies umso mehr, als der Kaiser mit der Urbarialregulierung von 1789 den kühnen und singulär dastehenden Versuch unternahm, die Leistungen der Bauern an die Grundherren generell zu regeln, Robot und Fron in eine einheitliche Geldsteuer umzuwandeln, 70 Prozent des Ertrags bei den bäuerlichen Produzenten zu belassen und den der Grundherrschaft zustehenden Anteil um gut die Hälfte zu reduzieren. Nirgendwo war das Aufbegehren energischer und wütender als in Ungarn, das Joseph II., gegen den hinhaltenden Widerstand der Gentry, in den Einheitsstaat eingegliedert und der neuen Kreisbürokratie unterworfen hatte; vor allem aber war die finanzielle Immunität der magyarischen Aristokratie angegriffen worden – eine „Verfassungsverletzung“, die die Stände all ihre verbliebene Macht mobilisieren ließ. Zugleich erhoben sich die Österreichischen Niederlande (das heutige Belgien) in einer von klerikalem und ständischem Sentiment, zivilem Ungehorsam und populistischem Patriotismus angetriebenen Revolte.

Die Ära des großen Visionärs Joseph II., des „aufgeklärten Despoten“, endet in Desillusion, Scheitern und Debakel. Noch zu Lebzeiten muss der bereits schwer kranke Herrscher widerrufen; die ungarischen Stände erkannten 1790 das für sie deutlich günstigere Theresianische Urbarium * (1766–1768) an, das zudem in seiner praktischen Umsetzung völlig wirkungslos bleiben sollte. An Josephs Nachfolger und Bruder, Leopold II., wird es liegen, den rebellierenden Feudaladel durch weitere Rücknahmen zu befrieden. Klug, umsichtig, im josephinischen Sinne reform- und modernisierungsorientiert, stirbt Leopold nach nicht ganz zwei Regierungsjahren.

Mehr als alles andere aber sind es die Schreckensnachrichten von der großen Französischen Revolution, die schlagartig die Erkenntnis reifen lassen, dass die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft unabhängig vom jeweiligen Herrscherwillen genau jene historischen Kräfte freisetzt, die den – wie auch immer aufgeklärten – Absolutismus in letzter Instanz stürzen (müssen). Franz II./I. leitet die große Abkehr vom habsburgischen „Reformabsolutismus“ ein, an die Stelle des josephinischen Modernisierungsprojekts tritt Österreich als ein „reaktionäres Prinzip“. Aus den Napoleonischen Kriegen wird das Habsburgerreich als eine zentrale Säule der europäischen Reaktion und des Ancien Régime hervorgehen, mit Staatskanzler Fürst Clemens Metternich als kontinentalem Doyen der Gegenrevolution [Die Erfindung Europas und Revolution und Konterrevolution].

– Wolfgang Maderthander –


*Vor dem Hintergrund schwerer Bauernunruhen erließ Königin Maria Theresia am 23. Jänner 1767 zunächst für die westungarischen Herrschaften ein Urbarialpatent, das bis 1779 in allen 43 Komitaten Ungarns Gültigkeit erlangte. Anstelle der bisher gebräuchlichen, regional unterschiedlichen Kontrakte zur Regelung der rechtlichen Beziehung zwischen Grundherrschaft und bäuerlichen Untertanen hatten einheitliche Aufzeichnungen (Urbare) zu treten, welche die jeweiligen Besitzverhältnisse und die daraus abgeleiteten Rechte, Pflichten und Einkünfte verbindlich definierten. Die rückständige ungarische Landwirtschaft sollte modernisiert, das Los der fronenden Bauernschaft erleichtert werden – so wurden alle im Urbar nicht ausdrücklich erwähnten Abgaben verboten, Roboten und Naturalleistungen konnten in Geldabgaben umgewandelt werden.

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Untertanenpatent

Dokument 33

Das „Untertanenpatent“ über die Aufhebung der Leibeigenschaft in Böhmen, Mähren und Schlesien.1. November 1781, Wien.