Musik liegt in der Luft

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„Eine höhere Macht hat unser Land ausersehen, Vaterland der großen klassischen Musik zu sein“, so Operndirektor Karl Böhm anlässlich der feierlichen Wiedereröffnung der durch Fliegerbomben devastierten, renovierten Wiener Staatsoper im November 1955. Seit April 1945 ist Musik die beste österreichische Exportwährung.

Inmitten der von den Nazis hinterlassenen geistigen wie materiellen Ruinenlandschaft wurden ebenso unverzüglich wie beharrlich und entschieden Aktionen des Wiederaufbaus und der Selbstbehauptung gesetzt. Es war eine kollektive Gewaltanstrengung, die bei einem absoluten Tiefstand der industriellen und der gewerblichen Produktion anzusetzen hatte, gleichsam aus dem Nichts heraus erfolgte und sich in einem ganz besonderen, symbolisch hoch aufgeladenen Zusammenhang vollzog. Es galt ganz offensichtlich, eine traditionelle, signifikante und bedeutungsschwere (Selbst-)Zuschreibung erneut und offensiv zu befestigen: jene von Österreich als ureigenster Hort des Schönen, Wahren und Guten, jene von Wien und Salzburg als die Welthauptstädte der Musik. Vor der internationalen Öffentlichkeit (und nicht zuletzt auch vor sich selbst) sollte und musste manifestiert werden, dass das Land trotz Kriegserfahrung, Zerstörung und Besatzung zu seiner eigentlichen kulturellen Identität zurückgefunden hatte und seiner historischen Sendung gerecht zu werden bereit war, dass das wahre, das wahrhaftige Österreich der Musik, der Geiger und der Tänzer in keinerlei Beziehung zur faschistischen Barbarei gestanden war, mehr noch, gestanden sein konnte. Der Welt sollte nachhaltig das Bild eines neuen, freien, demokratischen, kulturellen Österreich vermittelt werden, eines Volkes im Zentrum des geteilten Kontinents, das sich seiner großen musikalischen Tradition in jeder Hinsicht bewusst ist.

Am 17. April 1945, absolvierten die Wiener Philharmoniker, „unsere Treuhänder des Erhabenen und Schönen“ (Neues Österreich), zum ehest möglichen Zeitpunkt im Großen Konzerthaussaal ihren ersten Nachkriegsauftritt. Unter der Leitung von Clemens Krauss standen Schuberts Unvollendete, Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre und Tschaikowskys Symphonie Nr. 5 e-Moll auf dem Programm. Allein, die Last des soeben Vergangenen wog schwer: Clemens Krauss – der sich der persönlichen Protektion Hitlers und Goebbels’ versichert und Aufnahme in die „Gottbegnadeten-Liste“ des Dritten Reichs gefunden hatte – war in der Nazizeit Direktor der Reichshochschule Mozarteum (ab 1939) und der Salzburger Festspiele (ab 1941) sowie Gründungsdirigent des Neujahrskonzerts der Philharmoniker (1941) gewesen; sein Wirken am Mozarteum hatte er „mit tiefer Demut vor dem Genius Mozart und vor dem vorwärts stürmenden erhabenen Meister und Künstler Adolf Hitler“ angetreten. Wenige Monate nach dem auf ausdrücklichen Wunsch der sowjetischen Kulturverwaltung veranstalteten Konzert vom 17. April wurde Krauss wegen erwiesener nationalsozialistischer Einstellung mit einem zweijährigen Berufsverbot belegt.

Wien, so Jean Cocteau, sei vor allem „Ohrenstadt“, und so gerät die Wiederaufnahme der Spieltätigkeit der Oper am 1. Mai 1945 mit Figaros Hochzeit im unversehrten Volksoperngebäude zum glänzenden Triumph. Im Mai wird bereits regelmäßig ein Spielplan der Wiener Bühnen publiziert und Generaldirektor Czeija gibt die betont österreichischnational gehaltenen Sendepläne der RAVAG bekannt. Ein Sonderkonzert der Philharmoniker im Juni unternimmt die (wenig später unter latent antisemitischen Vorzeichen erneut zurückgestellte) Rehabilitierung des von den Nazis verpönten Gustav Mahler. In kurzen Intervallen folgen die Eröffnung des Redoutensaals mit Wiener Blut, die Reaktivierung der Sängerknaben, die Inbetriebnahme der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst. Mit der Eröffnung des renovierten Großen Musikvereinssaals schließlich erhält das österreichische Musikleben eine seiner traditionellen Weihestätten zurück. Am 6. Oktober setzt mit einem umjubelten Fidelio das ein Jahrzehnt lang währende Gastspiel der Wiener Oper im Theater an der Wien ein; die Spielstätte war in mühevoller Arbeit vom künstlerischen wie technischen Personal selbst adaptiert worden. Die Wiener Oper wird vor allem mit dem hier erarbeiteten neuen Mozartstil ihre Weltgeltung wiedererlangen, die Konzertsaisonen der folgenden Jahre werden alle Rekorde brechen. Niemals zuvor ist hierzulande auf derart breiter Basis öffentlich musiziert worden. In seiner beinahe manischen Rastlosigkeit, in seiner Dimension der durchgängigen Verdrängung ebenso wie in dem durchaus ernst gemeinten Bemühen um antifaschistische Identität kann dies jedenfalls als eine Parallelaktion zum profanen Wiederaufbau des Alltags und des Wirtschaftslebens verstanden werden – beide Ebenen zielten vordringlich auf ein radikales Ungeschehenmachen.

In diesem Zusammenhang kam der (möglichst originalgetreuen) Wiederherstellung eines mit so außergewöhnlichem symbolischen Kapital behafteten Gebäudes wie des Stammhauses am Ring (ebenso wie des Burgtheaters) absolute Priorität zu. Bis zu 300 Bauarbeiter, Steinmetze, Restaurateure, Eisenkonstrukteure etc. waren im Einsatz, 1949 war mit der Abdeckung des Zuschauerraums, der Eindachung des Bühnenraums und der Restaurierung von Foyers, Feststiege und Loggia eine entscheidende Bauphase erreicht. Für die Neugestaltung der Innenräume zeichnete Erich Boltenstern verantwortlich. Die Baukosten sollten sich auf die enorme Summe von 250 Millionen Schilling belaufen.

Am Samstag, dem 5. November 1955, fand dann die Galapremiere zur Wiedereröffnung statt, ein, wie die Tagespresse einhellig konstatierte, gesellschaftliches Ereignis von europäischem Rang, ein Festakt des Sehens und Gesehenwerdens, ein sprichwörtlicher Jahrmarkt der Eitelkeiten, noch glanzvoller – so der allgemeine Tenor – als die Eröffnung des Burgtheaters. Der offizielle, vormittägliche Festakt unter der musikalischen Leitung von Direktor Karl Böhm klang mit der Meistersinger-Ouvertüre und dem Donauwalzer aus. Am Abend dann die Eröffnungsvorstellung mit Ludwig van Beethovens Fidelio, dem „Hohelied der Freiheit und der aufopfernden Liebe“ (in den Hauptrollen Martha Mödl und Anton Dermota). Premierengäste aus aller Welt waren angereist, Stehplatzbesucher hatten sich bis zu dreißig Stunden angestellt. Die Vorstellung wurde, ebenso wie Mozarts Don Giovanni am nächsten Abend, mit Lautsprechern auf die umliegenden Straßen und Plätze übertragen, wo sich eine unübersehbare Menge versammelt hatte. Das junge österreichische Fernsehen schließlich setzte mit einer „künstlerisch und technisch einwandfreien“ Übertragung einen medialen Meilenstein.

– Wolfgang Maderthaner –

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