"Die Suche nach dem Österreichischen führt uns unweigerlich ins Archiv“
Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des österreichischen Staatsarchivs
Kryptogramme der Moderne
Dokument 50
Die Ernennung des 38-jährigen Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler zum Operndirektor (1897) wurde von vielen Wienern mit Befremden quittiert, so Stefan Zweig in seiner „Welt von Gestern“. In der Tat stehen Mahlers mitunter fragmentarisch anmutende, tonal und formal orchestrale Grenzgänge am übergang zur Moderne.
Als Dirigent und Operndirektor (1897–1907) der Tradition verpflichtet, reflektiert Gustav Mahlers kompositorisches Schaffen wie kaum ein zweites den Kulturschock, die Komplexität der Moderne. Seine tonalen Akkorde, sollte Theodor W. Adorno 1960 in seiner Wiener Rede anlässlich Mahlers 100. Geburtstag anmerken, sind so etwas wie „Kryptogramme der Moderne“, Schmerzensschreie des entfremdeten Individuums. Die Idee einer in sich geschlossenen, gleichsam systematischen Musik, deren ästhetischer Schein sich zu einem sinnstiftenden Ganzen fügt, hat er radikal verworfen.
Mahlers Abkehr von der Autonomie des geschlossenen klassischen Systems, sein spezifischer Weg in die Nach-Klassik erfolgte allerdings auch über die Einführung eines dem Alltagsleben, dem „Popularen“ entlehnten musikalischen Vokabulars: Walzer, Tänze, Märsche, jiddische und böhmische Lieder. Der zeitgenössische Enthusiasmus für die Strauß-Operette wurde von ihm bedingungslos geteilt (so wurde 1899 seine Hamburger Fledermaus in das Repertoire der Wiener Hofoper aufgenommen). Es ist sein österreichisches Idiom, auf das Mahler zurückgreift, und noch im abgeklärten Spätwerk klingt dieser Ton an, so etwa im Totentanz der 9. Symphonie als Reminiszenz eines Ländlers. Der Kunstmusik werden die populäre Tradition, das Volkslied eingepasst, und doch durchzieht das Ambivalente, das Vieldeutige, das Gebrochene jenes letzten Scherzos sein gesamtes Œuvre. Mahler, der die symphonische Idee vollendete und sie zugleich auflöste, ist ein Komponist der Abweichung. Seine musikalische Sprache ist gebrochen, verstörend, zersetzt die tradierten Ordnungen des ästhetischen mit den Mitteln des Traditionellen.
Mahler war im mährischen Iglau in einer Welt des aufblühenden Liberalismus, der Aufbruchsstimmung allgemeiner Emanzipation aufgewachsen. Seine wesentliche intellektuelle Sozialisierung aber erfuhr er ab Mitte der 1870er-Jahre in Wien, als Angehöriger einer sich formierenden, antiliberalen studentischen Gegenkultur, dem nach dem späteren sozial-demokratischen Reichsratsabgeordneten und Kunstkritiker so bezeichneten Pernerstorfer Kreis. Man traf sich im Ramharter’schen Vegetarischen Restaurant, und neben Mahler gehörten der Gruppierung der junge Hermann Bahr und Hugo Wolf an, ferner der exzentrisch-sensible Poet Siegfried Lipiner, Victor Adler – der „Hofrat der Revolution“ –, die nachmaligen Staatspräsidenten Tomáš Masaryk und Michael Hainisch, schließlich Lily von Gizycki, die in der deutschen Frauenbewegung, sowie Heinrich und Adolf Braun, die in der deutschen Arbeiterbewegung herausragende Rollen spielen sollten. Mahlers eng miteinander verbundenen Symphonien der Wunderhorn-Jahre (Nr. 1 bis 4) allerdings gemahnen in ihrer bisweilen programmmusikalischen Deutlichkeit nachhaltig an die prägende Phase seiner Wiener Studienzeit. Insbesondere seine 3. und 4. Symphonie – in denen er das Idiom eines volkstümlichen Realismus mit einer gegen den herrschenden Rationalismus gerichteten Philosophie zusammenführte – wurden zum musikalischen Manifest jener studentischen Subkultur, der er in jungen Jahren angehört hatte. Aus der Krise des Liberalismus geboren, waren gegenkulturelle Bewegungen wie diese zum Vorboten von dessen nahendem Ende geworden.
Der späte Mahler hat dann in seinem kompositorischen Werk radikale Schnitte gesetzt, so etwa hin zum hedonistischen ästhetizismus und zur katholisch-sinnlichen Mystik. Mit der schmucklosen ökonomie, der puritanischen Klangaskese des Liedes von der Erde und der Kindertotenlieder unternahm er eine weitere, nicht minder radikale Wendung, was ihn zum verehrten Vorbild der Zweiten Wiener Schule um Schönberg, Berg und Webern werden ließ. Diese komplexen Wandlungen, denen letztlich doch ein einigendes Prinzip zugrunde liegt, zeigen ein stark ausgeprägtes Vermögen, die großen Pole der österreichischen Kultur (deutsch/nicht deutsch, katholisch/jüdisch, elitär/populär) miteinander zu verbinden; sie reflektieren aber auch Mahlers spezifische Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität, seinem dreifachen Fremdsein (als Böhme unter österreichern, als österreicher unter Deutschen, als Jude in der Welt). In seinen heimatlosen, gebrochenen Symphonien kündigt sich eine neue, polyphone musikalische Sprache an; der letzte Satz der 9. (und letzten vollendeten) Symphonie gilt, wie Adorno festgehalten hat, als der erste der Neuen Musik.
– Wolfgang Maderthaner –
Kapellmeistervertrag
Dokument 50
Von Hopfoperndirektor Wilhelm Jahn und seinem Nachfolger Gustav Mahler abgeschlossener „Kapellmeister-Vertrag“, Wien 15. April 1897
Dokument 50
AT-OeStA/HHStA HA Oper SR 52-20 (Kapellmeistervertrag Mahler)
Kapell­meister­vertrag
Dokument 50
Vertrag,
welcher vorbehaltlich der Ratification durch die k. und k. General-Intendanz der k. k. Hoftheater zwischen der k. und k. Direction des k. k. Hofoperntheaters einerseits und Herrn Gustav Mahler anderseits abgeschlossen worden ist.
§. 1. Herr Gustav Mahler wird als Kapellmeister an dem k. k. Hofoperntheater engagirt u. z. auf die Dauer eines Jahres, welches am 1. Juni 1897 /: ersten Juni neunzigsieben :/ beginnt und am 31. Mai 1898 /: einunddreissigsten Mai neunzigacht :/ endigt.
§. 2. Herr Gustav Mahler erklärt, dass er keine frühere gegen wen immer eingegangene Verpflichtung zu erfüllen hat, welche mit den im gegenwärtigen Vertrage übernommenen Verbindlichkeiten nicht vereinbar wäre.
§. 3. Herr Gustav Mahler verpflichtet sich zu allen Functionen eines Kapellmeisters am k. k. Hofoperntheater und bei allen Unternehmungen, welche unter der Leitung der k. und k. Hofoperntheater-Direction stehen, u. z.
a)Zum Einstudieren und Dirigiren aller Gattungen von Opern, von Concerten oder sonstigen Musik-Aufführungen.
b)Zu den beim Einstudieren nöthig erachteten Correcturen oder Abänderungen der Parthien für die Individualität der Sänger.
c)Zu Kürzungen oder Amplificationen in den Partituren
d)Zu den von der Direction nöthig befundenen Instrumentierungen oder neuen Compositionen, wenn dieselben nicht in großen Musikstücken bestehen, welche extra honorirt werden, und
e)zur Abhaltung der mit einzelnen Solomitgliedern nöthigen Clavierproben.
§. 4. Herr Gustav Mahler verpflichtet sich, überall die vorschriftsmäßige exacte Geschäftsordnung strenge zu handhaben und so zum Besten des Kunstinstitutes und der Wohlfahrt des Ganzen zu wirken, wie es dem Range und der Würde des k. k. Hofoperntheaters entspricht.Herr Gustav Mahler verpflichtet sich demnach zur Überwachung der Proben und Vorstellungen und hat alles der Direction anzuzeigen, was ihm zur Verbesserung oder Erhaltung des Orchesters nöthig erschein.
§. 5. Herr Gustav Mahler hat auf Verlangen der Direction über Annahme oder Ablehnung einer zur Aufführung angebotenen Opern-Novität sein gewissenhaftes, schriftliches Gutachten abzugeben.
§. 6. Die von Herrn Gustav Mahler neu einzustudierenden Opern, sowie die von ihm zu dirigirenden älteren, stehenden Repertoire-Opern werden von der Direction bestimmt.- Herr Gustav Mahler ist jedoch verpflichtet, auch jede andere Oper zu dirigiren, wenn ein anderer Kapellmeister verhindert ist, seinen Dienstleistungen nachzukommen, sowie die Direction berechtigt ist, jede Oper, welche dem Herrn Gustav Mahler zum Dirigiren zugetheilt ist, auch von einem anderen Kapellmeister dirigiren zu lassen, wenn Herr Gustav Mahler durch ein von der Direction anerkanntes Hindernis außer Stande sein würde, seinen Verpflichtungen zu entsprechen.
§. 7. Für die genaue Einhaltung der übernommenen Verpflichtungen wird Herrn Gustav Mahler ein Gesamt-Jahresbezug von 5000 fl: ~ /:fünftausend Gulden Ö.W. :/ zugesichert, eingetheilt in eine Gage von 3000 fl: ~ /:dreitausend Gulden Ö.W. :/ und in eine onerose, steuerfreie Functionszulage von 2000 fl: ~ /:zweitausend Gulden Ö.W. :/ zahlbar in zwölf monatlichen Anticipativ-Raten.
§. 8. Herr Gustav Mahler hat außer den gewöhnlichen Theaterferien auf keinen Urlaub Anspruch.
§. 9. Herrn Gustav Mahler ist es nicht gestattet, sich bei irgend einer, nicht von der k. und k. Direction des k. k. Hofoperntheaters in Wein oder Umgebung veranstalteten öffentlichen Production in Ausübung seiner Kunst und in Eigenschaft eines Kapellmeisters mitwirkend zu betheiligen, ohne von der k. und k. Direction des k. k. Hofoperntheaters die Genehmigung hiezu vorher angesucht und erhalten zu haben.
§. 10. Sollte Herr Gustav Mahler durch ein in politischer oder anderer Beziehung anstößiges Benehmen, sei es nun während seines Aufenthaltes in der k. und k. Monarchie, oder während einer innerhalb der Contraktsdauer unternommenen Reise in das Ausland sich das Mißfallen des Allerhöchsten Hofes oder der Staatsverwaltung in einer Weise zuziehen, dass seine fernere Thätigkeit bei dem k. k. Hofoperntheater nicht mehr mit der Würde eines kaiserlichen Kunst-Institutes vereinbar erachtet würde, so steht es der k. und k. Direction des k. k. Hofoperntheaters frei, Herrn Gustav Mahler mit gänzlicher Aufhebung der beiderseitigen vertragsmäßigen Verbindlichkeiten ohne Weiteres zu entlassen und ist Herr Gustav Mahler in einem solchen Falle überdies verpflichtet die mit 5000 fl: ~ /:fünftausend Gulden Ö.W. :/ festgesetzte Conventionalstrafe zu bezahlen.
§. 11. Dasselbe Recht sofortiger Entlassung steht der k. und k. Direction des k. k. Hofoperntheaters zu, wenn eine regelmäßig /: d.i. nach dem allgemeinen Disciplinargesetze, oder auf Grund eines besonderen Hoftheater-Disciplinar-Status :/ abgeführte Disciplinar-Verhandlung, bei welcher sich der Beschuldigte sowohl persönlich als durch eine von ihm gewählte andere Person vertheidigen kann, constatiret hat, dass er sich in einer die Disciplin und die Würde des Institutes gröblich verletzenden Weise gegen die Behörden, Vorstände oder gegen ein Mitglied vergangen habe;wenn er eines Verbrechens oder eines entehrenden Delictes schuldig erkannt werden sollte;wenn er in Concurs verfiele;wenn er seine Thätigkeit am k. k. Hofoperntheater nicht rechtzeitig antreten, sich derselben eigenmächtig entziehen, einen Urlaub überschreiten, einer contractlichen Verbindlichkeit, ungeachtet einer schriftlich ergangenen Ermahnung nicht nachkommen sollte;wenn sich herausstellen sollte, dass Herr Gustav Mahler entgegen der Bestimmung des §. 2. eine collidirende Verpflichtung eingegangen habe.In den letzteren Fällen /: sub d und e :/ verfällt er überdies in die Conventionalstrafe.
§. 12. Sollte während der Dauer des gegenwärtigen Vertrages das k. k. Hofoperntheater als solches zu bestehen aufhören, so ist die k. und k. Direction berechtigt, mittelst einer einmonatlichen Kündigung an Herrn Gustav Mahler diesen Vertrag in allen seinen Stipulationen aufzulösen.
§. 13. Beide Contrahenten unterwerfen sich in allen in Bezug auf den Contrakt oder die aus demselben etwa entstehenden Streitfragen dem Ausspruche des in den Satzungen des deutschen Bühnen-Vereines bezeichneten Schiedsgerichtes unbedingt unter Verzicht auf jede Berufung und auf die Betretung des Rechtsweges. Das Schiedsgericht des Vereines muß in allen Fällen in erster Reihe von den Contrahenten angegangen werden. Nur wenn dasselbe die Entscheidung des Falles ablehnt, steht den Contrahenten frei, den ordentlichen Rechtsweg zu betreten.Die Competenz des Vereins-Schiedsgerichtes beschränkt sich lediglich auf die eigentliche Rechtssprechung in allen bezüglich des Contraktes oder aus demselben entstehenden Streitfragen; handelt es sich um Administrativ- oder Sicherheits-Maßregeln, z. B. Concurs-Anmeldungen, Erwirkung von Moratorien, Exekutions-Maßregeln zur Sicherung der Zahlung von Conventionalstrafen u. dgl., so muß der ordentliche Richter angegangen werden.Für den ordentlichen Rechtsweg, insoweit derselbe nach den obigen Bestimmungen überhaupt zu betreten wäre, wird festgesetzt, dass zur Entscheidung aller aus diesem Vertrage entstehenden Streitigkeiten, sowie zur Erwirkung der nicht der Real-Instanz vorbehaltenen Sicherstellungs- und Exekutions-Mittel die in Wien befindlichen Gerichte erster Instanz ausschließend berufen sein sollen.
§. 14. Herr Gustav Mahler verpflichtet sich, dem Pensions-Institute des k. k. Hofoperntheaters als Theilnehmer beizutreten und sich den Statuten desselben unbedingt zu unterwerfen.
§. 15. Die Vertragsgebühr ist von Herrn Gustav Mahler allein zu tragen und in der Art zu entrichten, dass die Quittungen über alle an denselben auf Grunde des Vertrages zur Zahlung gelangenden Bezüge außer mit dem Quittungsstempel nach Scala II noch einmal mit den nach derselben Scala für den quittirten Betrag entfallenden Stempelmarken zu versehen sind. Dieser Vertrag ist in duplo ausgefertiget, genehmiget und unterzeichnet worden. Urkund dessen die nachstehenden eigenhändigen Unterschriften.
Wien, am 15. April 1897