"Die Suche nach dem Österreichischen führt uns unweigerlich ins Archiv“
Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des österreichischen Staatsarchivs
Moralische Ökonimie
Dokument 37
An der Peripherie der Vorstädte entsteht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein frühindustrielles Subproletariat. Soziale Spannungen kanalisieren sich in Wien beispielsweise im „Bäckersturm“ von 1805: eine Ansammlung „verdächtigen, liederlichen, müßigen und gefährlichen Gesindels“ beginnt sich gegen seine schrankenlose Ausbeutung aufzulehnen.
Im Gefolge eines in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden Modernisierungsschubes hatte – gleichsam aus der spätfeudalen Gesellschaftsordnung heraus – das von Marx und Engels so bezeichnete „Gespenst des Kommunismus“ konkrete Gestalt angenommen: in Form eines rasch anwachsenden Fabrikproletariats in den Industrieenklaven Böhmens, des Wiener Beckens und der Wiener Vorstädte und Vororte. Dieses Proletariat ohne Recht auf Organisation und ohne jegliche soziale Absicherung war nicht nur dem Diktat einer neuen, rigorosen Arbeitsdisziplin ausgeliefert, sondern auch periodisch wiederkehrender Arbeitslosigkeit und den damit unvermeidlich verbundenen Verelendungsprozessen. Die Folgen, so zeitgenössische Beobachter, hätten sich in „grenzenloser Immoralität und sittlicher Verwilderung“ ausgedrückt. Ganze städtische Regionen seien von „ausgehungerten, zerlumpten“ Arbeitern förmlich überfüllt, in den Abendstunden wären die „unglücklichen Mädchen der Fabriken“ jedermann „für einige Groschen“ dienstbar gewesen. Die Wohnungsnot nahm insbesondere in Wien ungeahnte Dimensionen an: An der Peripherie der Vorstädte sammelte sich in slumartigen Auffangquartieren eine frühindustrielle Unterschicht aus Taglöhnern und Gelegenheitsarbeitern; Tausende von Obdachlosen wurden allabendlich von der Polizei über die Linie auf „freies Feld“ verbracht.
Von ihren ländlichen Wurzeln abgeschnitten, können sie sich vorerst in das ihnen so frem- de soziale, kulturelle und ökonomische Gefüge der Stadt nicht einfügen; sie bilden den Kern eines neu entstehenden städtischen Subproletariats. Den Hauptgrund für dessen weithin sichtbare Präsenz sah eine kaiserliche Kommission in einer verstärkten Landflucht. Die „Pöbelvermehrung“ in der Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung korreliere mit der „Verminderung der arbeitenden Hände auf dem Lande“. Für die mit ihrer Verwaltung betrauten Behörden stellte diese „Gattung nahrungsloser und größtentheils ungesitteter“ Menschen ein permanentes Gefahren- und Bedrohungspotenzial dar, das es polizeilich zu überwachen und zu domestizieren galt. Ausgestattet mit „ganz eigenen Grundsätzen“ und, wie die Polizeihofstelle feststellte, offenkundig ohne jegliche Anhänglichkeit an das Herrscherhaus, erschien diese „große Masse ganz mittelloser Personen“ umso gefährlicher, als sie sich ständig aus dem Arbeitskräftereservoir der Manufakturen und frühen Fabriken zu erweitern und zu erneuern schien.
In wilden Tumulten begann sich die Fabrikarbeiterschaft gegen ihre schrankenlose Ausbeutung aufzulehnen. So etwa am 7. und 8. Juli des Jahres 1805 in der Residenzstadt. Ausgehend von der Plünderung eines Bäckerladens auf der Wieden, dem Preistreiberei vorgeworfen wurde, griff der Aufstand der Fabrikarbeiterinnen, Taglöhner und Lehrburschen an diesem unerträglich heißen Sommerabend auf Mariahilf über: Man müsse sich, wo die Obrigkeit so offensichtlich versage und ihrer „Pflicht“ nicht genüge, sein Recht wohl selbst verschaffen. Hier wie dort spendet eine vieltausendköpfige Menge von Sympathisanten Beifall, feuert die Aufständischen an und ermuntert sie zur Fortsetzung ihrer Aktion. Tags darauf werden auch die Laimgrube, der Neubau, St. Ulrich und die Josefstadt von den Unruhen erfasst, die an Intensität sogar noch zunehmen. In den Abendstunden bricht der Aufstand der Vorstadt, der Wiener „Bäckersturm“, zusammen. Mehrere tausend Mann Infanterie und Kavallerie waren aufgeboten worden, zehn Tote und 200 Verletzte sind die Bilanz ihres Einsatzes. In einem Allerhöchsten Schreiben vom 9. Juli ordnet Kaiser Franz eine schnelle Untersuchung der zu seinem „größten Leidwesen“ ausgebrochenen Unruhen an, als ein „erspiegelndes Beispiel zur Abschreckung der übrigen Inwohner“. Der Aufstand könne allerdings einen hinreichenden Anlass für die groß angelegte Säuberung der Residenzstadt bieten: „Auch ist Mein ausdrücklicher Wille, daß die gegenwärtige Gelegenheit benützt werde und Wien von allen verdächtigen, liederlichen, müßigen und gefährlichen Gesindel, so wie vorzüglich von Fremden, die daselbst nichts zu thun haben, vollkommen zu reinigen, damit dadurch die Ruhe zum besten meiner getreuen Unterthanen auf eine dauerhafte Art hergestellt werde.“
Und doch durchzieht das soziale Aufbegehren wie ein roter Faden die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. 1843 bis 1846 kommt es zu Revolten in Brünn, Prag, Reichenberg und anderen böhmischen Städten, 1847 greifen diese auf Wien über; in Fünfhaus und Sechshaus brechen, Widerschein der Ereignisse des Jahres 1805, vor dem Hintergrund einer katastrophalen Missernte massive Brottumulte aus – Vorbote der großen Revolution von 1848, die eine gesamteuropäische sein und das Geschick des Kontinents entscheidend verändern wird.
– Wolfgang Maderthaner –
Kabinettsprotokoll
Dokument 37
Kabinettsprotokoll vom 9. Juli 1805 betreffend Visitierung der Bäckerläden.
Dokument 37
AT-OeStA/HHStA KA KK Protokolle und Indizes 176
Kabinetts­protokoll
Dokument 37
Note vom 9ten July, womit in Rücksicht der noch ferner zur Herstellung der Ruhe erforderlichen Einleitungen die Anzeige erstattet wird.[Erledigung] Was in Ansehung der Gewerbsleute zu thun ist, habe Ich bereits gestern meinem Polizey Präsidenten anbefohlen. Die angetragene Maßregel einer öffentlichen Visitirung der Bäckerläden würde, anstatt einen guten Eindruck auf das Publikum zu machen, ohne eine Unruhe zu verursachen, nur Gelegenheit zum Spott über die Anstalten der Landesverwaltung geben, die mit vielem Gepränge erst dann visitirt, wenn das Übel schon geschehen ist. Ich verbiethe also diese Maßregel ausdrücklich, kann aber keineswegs mein Mißfallen bergen, daß jene Behörden, welche aufgestellet waren, darauf zu wachen, damit das Publikum mit Brod in gehöriger Quantität und Qualität von den Gewerbsleuten auf eine anständige Art bedienet werde, ihr Amt nachlässig und pflichtvergeßen nicht erfüllet haben; daß ungeachtet aller von dem Publikum hier wegen mit Grund geführten Klagen keine Abhilfe, wie es doch hätte geschehen sollen verschaffet worden wäre, welches Ich auch in der Folge nur durch Anwendung der strengsten Mittel steuern konnte. Dieses Mein Mißfallen haben Sie auch der betreffenden Behörde zu bedeuten.
Handbilletenprotokoll
Dokument 37
Kaiserliches Handbillet an den Freiherrn von Summerau betreffend die Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung nach dem sogenannten „Bäckersturm“ in Wien. 10. Juli 1805, Wien.
Dokument 37
AT-OeStA/HHStA KA KK Protokolle und Indizes 177 (Handbilletenprotokoll 1805, Zl 615)
Handbilleten­protokoll
Dokument 37
An Gr(af) Rottenhan, den 9. July
Da die zu meinem größten Leidwesen in Wien ausgebrochenen Unruhen, eine schnelle Untersuchung der hierin befangenen Individuen, und Bestrafung der Schuldigen fordert, um sowohl auf den wahren Grund dieses Auflaufes zu kommen, als ein erspiegelndes Beispiel zu Abschreckung der übrigen Inwohner von derlei Auftritten zu erzielen; so will Ich, daß sogleich eine eigene Untersuchungsko(mmissi)on unter dem Vorsitze des Obersten Landrichters v. Haan aufgestellet werde, welchem Ich die Auswahl der Beisitzer vollkommen gegen dem überlasse, daß hiezu nur solche Männer ausgewählt werden, welche hier keine Verbindungen haben, und von ihrer ausgezeichneten Rechtschaffenheit, und Gesetzkenntnissen bereits Beweise gegeben haben, und daß zu dieser der Hofrath Baron Haager zugezogen werde; welche Kommission cum derogatione omnium instantiarum die anbefohlene Untersuchung zu pflegen, schleunigst zu vollenden, und Mir das Resultat, sobald möglich, mit dem Einrathen, wie die Schuldigbefundenen zu bestrafen seyen, vorzulegen haben wird.Ebenda, Zl. 615An Frey(herrn) Summerau, den 10. JulyAuf einen Vortrag des N.Ö. Reg(ierun)gs Präsidenten, worin er sich wegen Visitirung der Bäckerladen mit einigen gepränge, welche Maaßregel er aber nicht billigte, um meine Befehle anfrug, habe Ich die in Abschrift beiliegende Entschliessung erlassen. Die Polizeihofstelle als Kontrole, ob meine Befehle und Verordnungen genau befolget werden, und der Ich nebstdem in dem gegenwärtigen Drang der Umstände volle Macht zur Herstellung und Erhaltung der Ruhe ertheilet habe, wird darauf wachen, dass die in Ansehung der Gewerbsleute vorgekommenen Gebrechen in Hinkunft vermieden werden, daß die Bäcker mit gutem Brod in gehöriger Quantität, so wie mit den erforderlichen Vorräthen jederzeit versehen seyen, und sich so, wie alle andere Gewerbsleute dermaßen betragen, daß dem Publikum keine gegründete Ursache zu klagen gegeben werde, Für die Vollziehung dieses Meines Befehls, so wie für die genaue Anzeige jener Individuen, die sich sowohl vorhin, als in Hinkunft durch Nichtbefolgung ihrer Schuldigkeit und Meiner Befehle etwas zu Schulden kommen lassen, bleiben sie mir verantwortlich. Auch ist Mein ausdrücklicher Wille, daß die gegenwärtige Gelegenheit benützt werde und Wien von allen verdächtigen, liederlichen, müßigen und gefährlichen Gesinde, so wie vorzüglich von Fremden, die daselbst nichts zu thun haben, vollkommen zu reinigen, damit dadurch die Ruhe zum besten meiner getreuen Unterthanen auf eine dauerhafte Art hergestellt werde. Da Ich die Nichtbefolgung dieses meines Befehl scharf ahnden werde, so werden Sie, falls Sie hiezu Militär-Assistenz bedürfen sollten, sich an Meinen H(of) K(riegs) Raths-Präsidenten wenden, mit welchem Sie überhaupt in allem gegenwärtige Umstände betreffende Gegenstände in genauestem Einverständnis vorgehen werden. Auch gewärtige Ich die freymüthige Anzeige, welche von meinen Staatsbeamten bei den gegenwärtigen Umständen, seye es, daß sie vermög ihres Amtes hiebei etwas zu thun hatten, oder nicht, ihre Pflicht erfüllet, oder gar ausgezeichnet, so wie auch jene, welche ihre Pflicht vergessen, oder Furcht bezeiget haben, Und da die Staatsbeamte allen übrigen Unterthanen mit gutem Beispiel vorgehen müssen, so werden Sie, falls sich einige mit unüberlegten Raissoniren, oder sonst unanständig betragen sollten, oder hätten, selbe ohne weiters in Verhaft nehmen lassen, und Mir davon die Anzeige erstatten.Ebenda, Zl. 620An Freyherrn von Sumerau, den 11. JulySie werden Mir unverzüglich jene Beamte nahmentlich anzeigen, welche vor den ausgebrochenen Unruhen die Aufsicht auf die Bäcker hatten, und deren Schuldigkeit es gewesen wäre, diese dahin anzuhalten, daß sie das Publikum mit der gehörigen Quantität und Qualität von Brod bedienen; so wie auch jene, welche die Nachsicht hierwegen zu pflegen hatten.