"Die Suche nach dem Österreichischen führt uns unweigerlich ins Archiv“
Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des österreichischen Staatsarchivs
Der Rest ist Österreich
Dokument 68
Am 12. November 1918 wird im Parlament die Republik Deutsch-österreich ausgerufen. Angesichts der enormen Tragweite des politischen, ökonomischen und militärischen Zusammenbruchs des Habsburgerreichs schwankt die Stimmung zwischen tiefgreifender Verzweiflung und Hoffnung auf die Stabilität der republikanisch-demokratischen Kräfte.
Die erste österreichische Republik ist aus einer politischen und militärischen Katastrophe unvergleichbaren Ausmaßes hervorgegangen – aus dem Zusammenbruch der alten, übernationalen habsburgischen Reichsidee. Am 11. November 1918 stimmte der letzte österreichische Kaiser der Veröffentlichung einer in ihren zentralen Passagen von Karl Renner und Ignaz Seipel verfassten Verzichtserklärung zu. Zugleich beschloss der seit Ende Oktober unter dem Vorsitz des Sozialdemokraten Karl Seitz amtierende Staatsrat, für den nächsten Tag die Provisorische Nationalversammlung – also die Versammlung der Reichsratsabgeordneten aller deutschen Wahlbezirke österreichs – zu ihrer insgesamt dritten Sitzung einzuberufen. Der einem Entwurf Renners folgende Gesetzesbeschluss des 12. November erklärte Deutschösterreich zur demokratischen Republik, die Vorrechte der Familie Habsburg für aufgehoben und alle auf politischen Privilegien gegründeten Körperschaften für aufgelöst. Alle Rechte des Kaisers wurden dem Staatsrat übertragen, die Wahl einer Konstituierenden Nationalversammlung und die Neuwahl der Landes- und Gemeindevertretungen aufgrund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts angeordnet.
Bereits am 30. Oktober hatte die unter dem Eindruck der fortschreitenden Zersetzung des Habsburgerreiches einberufene Provisorische Nationalversammlung einen von Karl Renner konzipierten Beschluss über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt gefasst: eine erste, provisorische republikanische Verfassung. Unbeschadet der noch im Amt befindlichen kaiserlichen Regierung übertrug die Nationalversammlung die Regierungs-, Verordnungs- und Vollzugsgewalt einem von ihr gewählten Staatsrat, als dessen Leiter – also Staatskanzler – Renner selbst bestellt wurde. Mit sofortiger Wirkung wurden die Aufhebung der Militarisierung der Betriebe, die Wiederherstellung der Pressefreiheit und die Amnestie für politische Delikte beschlossen.
Vor diesem Hintergrund entfaltete sich eine politische Revolution, der durchaus Momente des sozialen Umsturzes und der Auflehnung der Massen eingeschrieben waren. „Und unter die wild erregten Heimkehrer, unter die verzweifelten Arbeitslosen, unter die von der Romantik der Revolution erfüllten Wehrmänner“, schreibt Otto Bauer in „Die österreichische Revolution“, „mischten sich die Invaliden des Kriegs, die ihr persönliches Schicksal an der schuldigen Gesellschaftsordnung rächen wollten; mischten sich krankhaft erregte Frauen, deren Männer seit Jahren in Kriegsgefangenschaft schmachteten, mischten sich Intellektuelle und Literaten aller Art, die, plötzlich zum Sozialismus stoßend, von dem utopistischen Radikalismus der Neophyten erfüllt waren; mischten sich die aus Rußland heimgeschickten Agitatoren des Bolschewismus.“ Die soziale Unruhe, die elementare Bewegung, die diese Massen ergriffen hatte, fand ihren Ausdruck in jener gewaltigen Demonstration, die am 12. November auf der Ringstraße abgehalten wurde, während im Parlament die Provisorische Nationalversammlung tagte. In nicht enden wollenden Zügen war die sozialdemokratische Arbeiterschaft Wiens aus den Außenbezirken vor das Parlament marschiert. Als über Anordnung des Staatsrats zum ersten Mal die rot-weiß-rote Fahne der Republik gehisst wurde, rissen Kundgebungsteilnehmer die weißen Teile aus dem Fahnentuch, womit vor dem Parlament die rote Fahne aufgezogen wurde. Kurz darauf stürzten kommunistische Soldaten in Richtung Parlamentstor und begannen mit einer ziellosen Schießerei, die zwei Menschen das Leben kostete, sonst aber weitgehend folgenlos blieb. Franz Werfel sollte in der Rückschau von zehn Jahren davon sprechen, dass sich an diesem 12. November ein Tag „äußerster Macht-Vernichtung“, also des Endes der vierhundertjährigen Habsburgermonarchie, in einen Tag „äußerster Macht-Entfaltung“, also der Gründung der demokratischen Republik, verwandelt habe.
Aus dem Zusammenbruch aller Werte, Normen und Autoritäten war zunächst die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gestärkt hervorgegangen. Ihrem historischen Selbstverständnis gemäß begann sie sofort, die revolutionären Energien der durch den Krieg entwurzelten Massen in eine Strategie zur Eroberung der parlamentarischen Demokratie und der umfassenden sozialen Reform einzubinden. In einer Situation des revolutionären Umbruchs und sozialromantischen Abenteurertums entwickelte sich die Sozialdemokratie zum einzigen, schließlich entscheidenden Faktor der sozialen und politischen Stabilisierung der jungen Republik. In einem überaus schwierigen und kontrovers geführten Diskussionsprozess mit den demobilisierten Kriegsheimkehrern und der radikalisierten Industriearbeiterschaft gelang es der Sozialdemokratie, die Gefahr eines revolutionären sozialen Umsturzes zu bannen. In Zusammen- arbeit mit den unter der Führung Friedrich Adlers [Das Attentat, relativiert] stehenden Arbeiterräten setzte sie Positionen durch, die den Rahmen für eine Festigung des noch labilen neuen Staatswesens setzten: Wiederherstellung der Produktion, Etablierung der parlamentarischen Demokratie, Beseitigung aller feudalen Restbestände, Durchsetzung umfassender Sozialreformen.
Die Intentionen gingen primär in Richtung Etablierung einer den Bedingungen moderner Industriegesellschaften angepassten „sozialen Republik“ und eines wohlfahrtsstaatlichen Modells, wie es allerdings erst unter den vollkommen veränderten geopolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg möglich werden sollte. Die am 17. Oktober 1919 ratifizierten Bestimmungen des Friedensvertrags von Saint-Germain [Saint-Germain] haben derlei Konzepte ebenso verhindert wie den (vornehmlich aus ökonomischen Motiven) angestrebten Anschluss an die deutsche Republik.
– Wolfgang Maderthaner –
Deutschösterreich
Dokument 68
Eine kurzfristige Vision: Karte des Staatsgebiets von Deutschösterreich. 1919, Wien.
Dokument 68
AT-OeSTA/KA KPS B IXc (063-10)
Kabinettsprotokoll vom 13. November 1918
Dokument 68
Kabinettsprotokoll Nr. 10 vom 13. November 1918. Stenogramm in Gabelsberger Kurzschrift (Auszug Wortmeldung Löwenfeld-Russ, Staatssekretär für Volksernährung).
Dokument 68
AT-OeStA/AdR MRang MR 1. Rep KRP (Nr. 10 vom 13. November 1918)
Kabinettsprotokoll vom 13. November 1918
Dokument 68
[KBR 10, 13. November 1918]
13./11., Kabinettsratsprotokoll 10.
Löwenfeld-Russ, Zerdik, Pacher, Steinwender, Hanusch, Stöckler, Urban, Kaup,
Riedl, Schüller, Eldersch, Deutsch, Roller, Mataja, Hildebr.
Mit Ausnahme der Sekretäre Jukel und Mayer, der Unterstaatssekretär Riedl,
zugezogen Sektionschef Dr. Schüller.
Steinwender: Sicherheit für Morgen, [...] bezüglich des Jänner, Militärbehörden, Heereswesen,Vorschläge zu erstatten.
Löwenfeld-Russ: Ernährungsfrage. Situation immer kritischer, bis Ende dieses Monats mit Mehl gedeckt in Wien, jedoch Außenstände für die Alpenländer -. Über die ersten Tage Dezember können wir nicht hinweg kommen. Null an Zucker, Anfang Dezember katastrophal.
1) Vorkehrungen: durch Aufruf, Austausch gegen Kleidungsstücke, kein befriedigendes Ergebnis.
2) Verhandlungen mit den ehemals österreichischen Staaten: [von der] Tschechoslowakei nichts zu erhalten; Polen gewisse Menge, aber gering; Süd[...] nicht in Betracht; Ungarn nicht bedeutend.
3) Entente. Vom Auswärtigen Telegramm an Amerika (bisher ohne Antwort) via Schweiz.
4) Lediglich mit Deutschland möglich: Morgen Abend Eldersch nach Berlin (Mehl zunächst 30.000 To pro Monat), Verhandlungen dänische Rinder, gekühltes Fleisch. In den allernächsten Tagen unter politischer Führung nach Ungarn (hauptsächlich wegen Rindern und der zurückbehaltenen Schlepper). Kokrda, Ellenbogen? Bitte, daß ein Mitglied bestimmt wird. Zur Erwiderung des kürzlich abgeschlossenen Vertrages zur Erzielung eines [...] bestimmten Contingents an Vieh (HM., K[...] mitfahren).
5) Verhandlungen mit der Tschechoslowakei: Kartoffel, Frostgefahr. Zuckersituation (Tschechoslowakei wenn die Zuckerorganisation ihnen übertragen wird). Die Orientierung nach der Tschechoslowakei ist in der Lage der Sache gegeben. Daher Frage, ob es einen Sinn hat, auf diesem Beschluss zu beharren.
d) Entsendung einer Commission nach Prag zur Bereinigung der Zuckerfrage. Wenn der Staatsrat Zustimmung gibt, Telegramm.
Riedl: Gegen Verhandlungen mit Deutschland und der Entente nichts einzuwenden, gleichzeitig mit Deutschland auch Kohlenlieferungsvertrag. Antrag: Daß bei den Berliner Verhandlungen Kohle einbezogen wird.
Verhandlungen mit Ungarn: Sache nicht zu überstürzen, bevor nicht die Demobilisierung. Halte jetzt für aussichtslos, Westungarn sehr starke Bewegung zum Abfall von Ungarn im Zuge. 2-2½ Monate das Auslangen (nicht requiriert). Zustimmung zu Auto gegeben, Grenzwache nicht mehr vorhanden, Panduren aus dem Land ausgetrieben, Versprechungen nie etwas wert gewesen.
Tschechoslowakei: heute mit mir zu verhandeln begonnen: Peroutka und Zeisl, früher Beamte der Länderbank. Sachdemobilisierung, sie sagen, daß sie keine Güter in der Hand haben; Forderungsliste überreicht.
Antwort gegeben: Sachdemobilisierung Güter werden als Nationaleigentum des Staates auf dessen Territorium sie sich befinden. Regierungen werden alles veranlassen, um möglichst gute Verwertung in finanzieller Hinsicht herbeizuführen. Wechselseitig anerkannt, daß die Werte oder Erlöse nicht ohne weiteres jenem Staat zufallen, der Besitz ergriffen hat von diesen Gütern; daß der Anteil durch Verhandlungen zwischen ihnen zu bestimmen ist, wobei die Frage der Beteiligung an den Kriegsschulden von maßgebendem Einfluss sein wird. Sachen übergeben, die für die Wirtschaft des übernehmenden Staates maßgebend ist. Hierbei vorausgesetzt, daß auch über die übrigen wirtschaftlichen Fragen ein freundlicher Verkehr eintritt. Um die Durchführung Grundsätze zu sichern, gegenseitige Entsendung von Delegationen und gegenseitigen Einblick in die Verwaltung in Aussicht zu nehmen.
Die Richtigkeit des Standpunktes wurde von den Herren persönlich anerkannt. Per.[outka] wirtschaftlicher Attaché Tusar damit auch Erledigung der Zuckerfrage. Glaube ein Symptom ableiten zu dürfen dafür, daß die Sache unsererseits richtig beurteilt wurde. Zuckerzentrale von Prag aus ganz Deutsch-Österreich versorgen. Daher auch gegen Entsendung einer Commission nach Prag.
Schüller: Bauer beauftragt, mitzuteilen, politische Gründe ein zu starkes Präjudiz nicht vorhanden wäre. Tschechoslowakei beim Wort nehmen. Nach den Erfahrungen in Prag ist eine generelle - Verhandlungen nicht wünschenswert. Wegen Verhandlungen mit der Entente im Begriff, möglichst rasch Delegation zusammen zu bringen (noch heute Mitteilungen).
Eldersch: Zu Verhandlungen zwischen Regierungen wird es nicht kommen. Was in den Narodni Vybor kommt, wird abgelehnt. Weder Kartoffel noch Getreide sind zu erhalten (heuer Hälfte weniger wie im Vorjahr), nur Zucker zu erhalten. Auch der Meinung, man soll ihnen die Zentrale nach Prag geben, aber nur von Fall zu Fall, nicht generell. Von den tschechoslowakischen Organisationen könnte auch hier etwas gemacht werden.
Löwenfeld-Russ: Das Einfachste wäre, Telegramm nach Prag über die Annahme der tschechoslowakischen Propositionen zu Verhandlungen. Es handelt sich aber um die Verteilung des ganzen Quantums in Österreich, die Bewirtschaftung von Prag ist eine Schwierigkeit. Vier Fabriken nach Prag, 700 Waggons in einer Zuckerverteilung in Wien.
Wetzler: 80 Waggons Bohnenkaffee, Wein.
Eldersch: In Böhmen und Mähren wird mob.[ilisiert], die Heimkehrer laufen nach Hause. Aber sie sprechen davon, daß sie Ordnung machen werden in Mähren und Böhmen. Die deutschböhmischen Länder sollen sie zugesagt bekommen haben. Hab. zwingen wir Euch nicht. Nach Prag schicken tel.[egraphieren] von der Zuckerzentrale: wir treten auf der vorgeschlagenen Basis in Verhandlungen (für diese Campagne).
Hanusch: Anfrage Pensionsanstalt.
Pacher: Bei den Vollzugsanweisungen betreffend Schulaufsicht -.
Bezüglich Übernahme der Hofbibliothek ob etwas verfügt bitte:
Staatsrat oder Unterricht anweisen, das Kunsthistorische Museum .... in seine einstweilige Verwaltung zu übernehmen. Die Kunstabteilung im Unterrichtsamt zu erweitern zu einem Kunstamt innerhalb dieses Staatsamtes, welchem das Musealwesen zugewiesen werden kann. Diese Abteilung würde die Verwaltung des größten Teils der Hofanstalten zu übernehmen haben.
Renner: Die Übernahme soll durch ein besonderes Gesetz verfügt werden. Die Hoffunktionäre in Eid und Pflicht nehmen.
Augenblicks-Hilfe für die ..
Freitag abends ab ½4, dann nach dem Staatsrat Fortsetzung. Verbindungs-Beamten mitzuteilen: sämtliche Staatssekretäre pünktlich und vollzählig immer.
Exempl. Riedl.
Beschluß der provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich
Dokument 68
Die provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich beschließt die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt.
Dokument 68
AT-OeSTA/AdR BKA-Inneres StK (StGBl. Nr. 1-1918)
An das deutschösterreichische Volk!
Dokument 68
12. November 1918, Wien. Aufruf der provisorischen Staatsregierung, gezeichnet von Präsident Franz Dinghofer, Staatskanzler Karl Renner und Staatsnotar Julius Sylvester.
Dokument 68
AT-OeSTA/AdR BKA-Inneres StK StGBl. Nr. 6-1918