Eichmanns Zwischenbilanz

Dokument 85

Wandtafeln mit peniblen Statistiken und Piktogrammen zur Judenvertreibung in der „Ostmark“, im Namen der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ erstellt, sind stumme Relikte des NS-Terrors. Adolf Eichmann und Alois Brunner sind skrupellos-ehrgeizige Schreibtischtäter großen Stils.

Ein Schlüsseldokument österreichischer Geschichte und zugleich ein Musterbeispiel nationalsozialistischer Perfidie und Perversion: Hergestellt von ihren Opfern, im Auftrag der Täter, ist die mit dem euphemistischen Titel „Die Jüdische Wanderung aus der Ostmark“ versehene Wandtafel eine monströse Leistungsschau der Judenverfolgung in Österreich. An der Schwelle zum Massenmord an den europäischen Juden verbinden, nicht aber verbünden sich in ihr die rationale Klarheit der Wiener Methode der Bildstatistik und der Wahnsinn der nationalsozialistischen Rassenpolitik zu einem Zerrbild der Moderne.

Wiederaufgetaucht im Jahr 2000, inmitten von 800 Umzugskartons mit nicht inventarisierten Archivbeständen der IKG Wien, präsentiert die rund 1,5 × 2,5 Meter große, zusammenfaltbare Wandtafel eine Zwischenbilanz für die Zeit zwischen dem 2. Mai 1938 (dem Tag der Wiedereröffnung der von der Gestapo zunächst geschlossenen IKG Wien) und dem 31. März 1941. Ihr linker und rechter Flügel stellen die – nach neuerer Forschung geringfügig zu korrigierenden – Zahlen der Juden und jüdischen Organisationen zu den beiden Zeitpunkten einander gegenüber. Zwei Kurvendiagramme verzeichnen den Niedergang der Geburten und die zu bestimmten Daten – etwa nach dem Novemberpogrom 1939 – teils durch Selbstmorde signifikant ansteigenden Todesfälle. In einer an Otto Neuraths Isotype geschulten Bildsprache werden die Ergebnisse der Umschulungskurse zusammengefasst, die auf die neue Situation in den Fluchtländern vorbereiten sollten. Das Herzstück der Wandtafel ist jedoch ein Funktionsdiagramm der Vertreibungsmaschinerie, die mit ihren Ämtern und Behörden immer auch eine Vermögensentzugsmaschine war. Nicht einmal auf die Abfuhr der Hundeabgabe wurde vergessen. An herausgehobener Stelle im Diagramm steht die am 20. August 1938 eröffnete, zunächst von Adolf Eichmann, ab Jänner 1941 offiziell von Alois Brunner geleitete Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Die Weltkarte mit den Land für Land geschätzten Zahlen der ausgewanderten Juden weist für das Generalgouvernement die Zahl 6.100 aus. Dorthin sind Juden jedoch nicht ausgewandert. Am 15. Februar 1941 hatten die Massendeportationen der österreichischen Juden eingesetzt, die in den ersten fünf Transporten im Februar und März 1941 vom Wiener Aspangbahnhof in Ghettos des Generalgouvernements Deportierten sind mitgezählt. Für diese und die folgenden Deportationen haben die Täter zum Teil dieselbe Infrastruktur und dieselbe Sprache genutzt wie für die erzwungene Auswanderung. Die Wandtafel steht für den gleitenden Übergang von der Vertreibung zur Vernichtung, den die Opfer lange nicht wahrhaben konnten und wollten.

Singulär in ihrer Bedeutung, ist die Wandtafel kein Einzelstück, sondern Teil einer Serie, aus der derzeit sechs weitere Wandtafeln zu unterschiedlichen Stichtagen bekannt sind, alle jeweils zum Monatsletzten: zum April, Juni und November 1939, zum Oktober 1940, zum Juni und Dezember 1941. Jene vom April 1939 ist in zwei, in Details voneinander abweichenden Exemplaren überliefert, jene vom Oktober 1940 nur in Form einer Schwarzweißfotografie. Letztere und die allerletzte vom Dezember 1941 unterscheiden sich von den vorangegangenen durch ihren Titel und Inhalt: „Die jüdische Wanderung aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat Böhmen-Mähren.“

Ein mit der schlichten Bezeichnung „Internes.“ versehener schmaler Akt aus denselben Umzugskartons gibt Aufschluss über die Entstehung dieser beiden Wandtafeln und indirekt über jene der anderen: Ihre Herstellung wurde von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Berlin angeordnet, angefertigt wurden sie von der IKG Wien, das für das Altreich und das Protektorat nötige Zahlenmaterial hat die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland geliefert. Die beiden Wandtafeln folgen dem Muster der anderen, die Zentralstellen in Berlin und in Prag waren Klone der Zentralstelle in Wien, alle drei unterstanden zu diesem Zeitpunkt dem Judenreferat im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und damit dessen Leiter Eichmann. Die als „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ bezeichnete Berliner Zentralstelle wurde formell vom Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts (SD) Reinhard Heydrich geleitet, der auch die Leitung des im September 1939 gegründeten RSHA innehatte. De facto war ihr Leiter jedoch der in Linz aufgewachsene Eichmann, der seine steile Karriere in Wien begonnen hatte.

Die IKG Wien, die seit ihrer Wiedereröffnung der doppelten Kontrolle der Gestapo und des SD unterstand, musste den SD-Mitarbeiter Eichmann seit seinem Amtsantritt in Wien regelmäßig mit Zahlen versorgen – in Form von Wochenberichten, Monatsberichten und Wandtafeln. Die Wiener „Erfolge“ bildeten eine wesentliche Grundlage für Eichmanns Karriere. Dass die IKG Wien die Wandtafeln für das Gesamtreich produzieren musste, ist ein Beleg für die These vom „Wiener Modell“, das von Eichmann in andere NS-Herrschaftsbereiche exportiert wurde.

Als die letzte Wandtafel vom Dezember 1941 entstand, war der Holocaust schon im Gange: Vom Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bis Ende Dezember 1941 hatten die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD bereits an die 500.000 Juden erschossen. Am 1. November 1941 wurde mit dem Bau von Belzec begonnen, dem ersten von vier Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt im Generalgouvernement. Am 8. Dezember 1941 startete die Ermordung von Juden und Roma in den Gaswägen des Vernichtungslagers Chełmno. Die Opfer all dieser „Aktionen“ waren großteils osteuropäische Juden, die westeuropäischen sollten ihnen folgen. Im Oktober 1941 hatten die Bauarbeiten für Auschwitz-Birkenau begonnen.

Am 23. Oktober 1941 erließ der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler die Anordnung, dass die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern sei. Der Paradigmenwechsel der nationalsozialistischen Judenverfolgung von der Vertreibung zur Vernichtung war damit vollzogen. Im durch und durch korrupten NS-System gab es freilich Ausnahmen, die „in ganz besonders gelagerten Einzelfällen“ vom RSHA zu genehmigen waren. Um die Opfer, nicht aber die Täter zu verwirren, wurde ausdrücklich festgehalten, dass die „Evakuierungsaktionen“ vom generellen Auswanderungsverbot unberührt blieben: Die von Eichmanns Referat organisierten und nur nachlässig als „Auswanderung“ getarnten Deportationen der westeuropäischen Juden in den Osten sollten nun erst so richtig beginnen.

Nach siebenmonatiger Pause wurden im Oktober 1941 fünf weitere Deportationszüge in Wien abgefertigt. Ein Jahr später waren mit dem 45. Transport bereits über 45.000 Juden allein aus Wien deportiert. Die Massendeportationen der österreichischen Juden waren damit am 9. Oktober 1942 abgeschlossen. Die IKG Wien wurde am 31. Oktober 1942 aufgelöst und durch einen Ältestenrat der Juden ersetzt. Kleinere Deportationstransporte folgten bis August 1944. Am Ende steht eine Bilanz, für die keine Schautafel mehr existiert.

– Ingo Zechner –

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"Die jüdische Wanderung aus der Ostmark"

Dokument 85

Schaubilder erzwungener Emigration: die Wandtafel "Die jüdische Wanderung aus der Ostmark. 2. Mai 1938 – 31. März 1941". Wien.