Die Erfindung Europas

Dokument 42

Unter Leitung von Kanzler Klemens Fürst Metternich erfolgt im Rahmen des Wiener Kongresses zwischen September 1814 und Juni 1815 die territoriale Transformation Europas, mit dem Ziel dauerhafter Friedenssicherung. Eines der zentralen Themen betrifft die Neuordnung der deutschen Lande nach dem Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation.

Unter der Führung des österreichischen Reichskanzlers Metternich und ganz in der Tradition der aristokratischen Geheimdiplomatie erarbeitete der Wiener Kongress ein verpflichtendes rechtliches Regelwerk, das die Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten regeln sollte und später als jus publicum europaeum bezeichnet wurde. Dem dadurch geschaffenen Kräftegleichgewicht der Großmächte und deren wechselseitiger Neutralisierung war es zu verdanken, dass in Europa – wenn auch unterbrochen von begrenzten militärischen Auseinandersetzungen – hundert Jahre lang weitgehend Frieden herrschte: ein „europäisches Konzert“ der sensiblen Balance und des Ausgleichs unterschiedlicher staatlicher, sozialer und ökonomischer Interessen. Befördert durch die kurzfristige und überaus bedrohliche Rückkehr Napoleons aus Elba („Herrschaft der Hundert Tage“), gelangte der Kongress zu pragmatischen, erstaunlich erfolgreichen Ergebnissen; die Schlussakte wurde wenige Tage vor Waterloo unterzeichnet [Kontinent am Abgrund].

Die Etablierung einer europäischen Friedensordnung dieser Dimension hatte zunächst die Gleichbehandlung des besiegten Frankreich – dem erneut Großmachtstatus zuerkannt und dessen territoriale Ausdehnung im Wesentlichen in den Grenzen von 1789 belassen wurde – zur Voraussetzung. Die wesentliche Kolonial- und eigentliche Großmacht der Zeit, Großbritannien, wiederum entwickelte am europäischen Kontinent kaum territoriale Ambitionen. Oberste Priorität kam der Neutralisierung der französischen Macht zu: Der auf Kosten Dänemarks vollzogene Transfer Norwegens zu Schweden, vor allem aber die Vereinigung Hollands und Belgiens (der ehemaligen österreichischen Niederlande) zu einem Staat sind in diesem Zusammenhang zu sehen; beide Maßnahmen waren in hohem Maße unpopulär. Das Königreich der Niederlande sollte vor allem als eine territoriale Barriere gegen Frankreich fungieren. Die britische Kontrolle über Helgoland, Malta, die Ionischen Inseln und, de facto, Sizilien diente hingegen der weiteren Absicherung der unumschränkten britischen Dominanz zur See. Das zaristische Russland darf demgegenüber als der eigentliche Gewinner der territorialen Neuordnung Europas gelten. Es gliederte sich Finnland (auf Kosten Schwedens) an, ebenso Bessarabien (auf Kosten des Osmanischen Reiches) und wesentliche Teile Polens. Letzterem wurde eine Art kontrollierter Autonomiestatus zuerkannt, der allerdings nach dem nationalen Adelsaufstand von 1830/31 wieder aufgehoben wurde [Murat Pascha].

Den russischen Bündnispartnern in der im September 1815 formierten Heiligen Allianz, Preußen und österreich, kam vornehmlich eine innereuropäische Stabilisierungsfunktion zu. Preußen erwarb mit dem Rheinland und großen Teilen Sachsens wohlhabende, am Sprung zur industriellen Moderne stehende Gebiete mit bedeutendem ökonomischen Entwicklungspotenzial. Es stieg damit endgültig in die Reihe der europäischen Großmächte auf. Demgegenüber ging es dem brillanten Diplomaten und konservativen Intellektuellen Staatskanzler Metternich vor allem um die Aufrechterhaltung österreichs als Großmacht und übernationales Staatengebilde. Sein Verzicht auf die ohnedies ungeliebten österreichischen Niederlande wurde durch die neue Dominanz in Italien mehr als kompensiert. Der Wiener Kongress gestaltete somit die politische Landkarte Italiens, einer Säule des napoleonischen Herrschaftssystems, grundlegend neu. Einvernehmliches Ziel war es, einem aufkeimenden italienischen Nationalismus von allem Anfang an jegliche Basis zu entziehen. Demgemäß wurde Italien der österreichischen Fremdherrschaft unterstellt. Die Lombardei und Venetien wurden österreichische Provinzen, die Toskana, Parma, Modena von österreichischen Erzherzögen regiert, der Kirchenstaat und Neapel standen unter habsburgischem Einfluss. Doch es ist eine überaus labile Herrschaft, die stets mit Subversion und Aufruhr zu kämpfen hat; Neapel, das Piemont und die Romagna erheben sich. Den Italienern, wird Metternich befinden, ermangle es an Charakter und Ernst; sie seien „kein Volk“, Italien lediglich „ein geografischer Begriff“. Eine Fehleinschätzung: Das vom Hause Savoyen regierte, vom Wiener Kongress bedeutend gestärkte und als machtvolle Barriere gegen Frankreich gedachte Königreich Sardinien-Piemont sollte schnell die Führungsrolle im Risorgimento – dem italienischen nationalstaatlichen Einigungsprozess – übernehmen.

Bleibt schließlich die territoriale und staatsrechtliche Neuordnung Deutschlands als eine der zentralen Problematiken des Wiener Kongresses; über 50 Artikel der Schlussakte sollten die Deutsche Frage betreffen. Der Lösungsansatz, in sich eine Kampfansage an den deutschen Nationalismus, blieb umstritten und konfliktträchtig: An die Stelle des römisch-deutschen Kaisertums trat der Deutsche Bund (1815–1866) unter österreichischem Präsidium, in Frankfurt wurde ein regelmäßig tagender Bundesrat eingerichtet. Gemäß ös- terreichischen Vorstellungen eine Art freie Verbindung von Souveränen, traten dem Bund (dem auch die böhmischen Länder und die Alpenländer angehörten) 34 Fürsten und vier freie Städte bei. Ohne gemeinsame Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung schreibt der Bund die ökonomische und politische Zersplitterung Deutschlands fort: Jeder Einzelstaat bildete ein eigenes Zollgebiet mit eigenen Gesetzen, Währungen, Maßen, Niederlassungsbeschränkungen. Entgegen scheinbar verbindlicher Festlegungen in den Befreiungskriegen blieb der Absolutismus die dominante Herrschaftsform. Hier wie in Italien setzte sich ein erstarkender Libera- lismus die Freiheit und Einheit des Landes zum Ziel.

– Wolfgang Maderthaner –

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Wiener Kongress: Schlussakte

Dokument 42

Die erste Unterschriftenseite der Schlussakte des Wiener Kongresses mit den Signaturen von Staatskanzler Metternich, Talleyrand, Wallenberg, Humboldt und Nesselrode.

"Der Wiener Kongress 1815 schafft eine Neuordnung in Europa.“

- Thomas Just -
Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs