Islam, integriert

Dokument 58

Nahezu im Sinne eines modernen, religionsneutralen Staates ohne „Schiedsrichter- oder Vermittlerrolle“ (Heinz Fischer, 2012) widmet sich der Gesetzgeber, aus damals aktuellem Anlass, dem muslimischen Bevölkerungsanteil im annektierten Bosnien.

Die Anerkennung der Anhänger des Islam als Religionsgesellschaft im Jahr 1912 (RGBl. 159/1912) steht in der Tradition der österreichischen Religionsrechtsentwicklung. Deren entscheidende verfassungsrechtliche Grundlage bildete damals das Staats- grundgesetz 1867, in dem neben der individuellen Religionsfreiheit des Art. 14 in Gestalt des Art. 15 StGG auch eine korporative Grundrechtsgarantie verankert wurde. Die einfachgesetzliche Umsetzung der grundrechtlichen Garantien erfolgte durch das Gesetz vom 20. Mai 1874 betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften (RGBl. 68/1874). In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Kirchen und Religionsgesellschaften damals umfangreich in die staatliche Verwaltung eingebunden waren. Sie waren nicht nur ein wichtiger Träger von Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, sondern beispielsweise im Personenstandswesen direkt mit dem Vollzug von staatlichen Aufgaben befasst.

Die Anerkennung der Anhänger des Islam steht aber auch mit historischen Entwicklungen in Südosteuropa im Zusammenhang. Im Vertrag von Berlin 1878 erhielt österreich-Ungarn, wie bereits 1877 im Budapester Vertrag vorgesehen, das Recht, Bosnien-Herzegowina zu besetzen, wo neben serbisch-orthodoxen und katholischen Christen auch eine erhebliche Anzahl Muslime lebten [Die Annexion Bosniens]. Dies führte in der Folge 1882 zu einer neuen Organisation der „Leitung der religiösen Angelegenheiten“ in Bosnien-Herzegowina. Der, im heutigen Sprachgebrauch parlamentarischer Materialien so genannte, „Bericht der Spezialkommission zur Vorberatung der Gesetzesvorlage betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft“ vom Jänner 1910 gibt einen Einblick in die damaligen überlegungen und Sichtweisen.

Eine Anerkennung nach dem Gesetz von 1874 schien damals nicht möglich. Der Spezialbericht führt dazu aus, dass „besondere Ausnahmebestimmungen Platz greifen sollen“, und dazu wäre eben ein Spezialgesetz erforderlich. Dies stellte im Kultusrecht kein Novum dar, sondern es bestanden beispielsweise schon das Protestantenpatent von 1861 und das „Gesetz betreffend die äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft“ vom 21. März 1890. Gerade das letztgenannte enthielt zahlreiche „Spezialnormen“, die durch die besondere Verfasstheit der Religionsgemeinschaft bedingt waren. Im heutigen Verständnis wäre dies ein Ausfluss des Sachlichkeitsgebotes als Folge aus dem Gleichheitssatz, der differenzierte Regelungen aufgrund tatsächlich bestehender Sachunterschiede erfordert. Bezüglich der Reichweite der Anerkennung „des Islam“ wurde bereits damals erkannt, dass dieser in verschiedene Strömungen oder Richtungen „zerfällt“. In den Materialien wird argumentiert, dass der hanefitische Ritus eine wesentliche und die in Bosnien-Herzegowina einzig vertretene Richtung wäre. Auf daraus folgende inhaltliche, bereits damals bekannte Problemstellungen wird in den Materialien nicht eingegangen, wenngleich die im Folgenden angeführten überlegungen einen Blick auf die dahinterliegenden Diskussionen gestatten. Die Einschränkung auf die „Anhänger nach hanefitischem Ritus“ wurde 1987 durch den Verfassungsgerichtshof der Republik als gleichheitswidrig aufgehoben (VfSlg 11574/1987).

Der Spezialbericht zeigt weiter, dass bereits damals das staatliche Recht zu verschiedensten Regelungen im Lehrbestand des Islam in einem Spannungsverhältnis gesehen wurde. Aus diesem Grund weist der Bericht auch darauf hin, „dass in der Sitten- und Rechtslehre Bestandteile vorkommen, die der christlich-europäischen Zivilisation widerstreiten“ und nennt in der Folge exemplarisch die Anerkennung der Sklaverei, die Polygamie, das Talionsprinzip, die Steinigung bei Ehebruch oder die Verstümmelung wegen Diebstahls. Im Anschluss findet sich eine Abwägung dieser mit dem staatlichen Recht nicht vereinbaren religiösen Lehren auf zwei Ebenen. Auf der staatsrechtlichen Ebene wird begründet, dass nach § 6 Islamgesetz 1912 eben nur jene Teile der Lehre anerkannt werden, die nicht mit den Staatsgesetzen in Widerspruch stehen. Diese Bestimmung wurde auch in § 2 Abs. 2 Islamgesetz 2015 übernommen. Auf religiös-ethischer Ebene wird schon damals darauf hingewiesen, dass es sich beim Islam um eine monotheistische Religion handle, die die Unsterblichkeit der Seele lehre, und dass sich auch ansonsten im Koran „Stellen von hohem ethischen Werte“ fänden.

Das Gesetz enthielt einige Abweichungen von den allgemeinen Regelungen, insbesondere in Bezug auf die Organisation, bei der jener Bosnien-Herzegowinas eine Sonderstellung eingeräumt wurde: Zum Zeitpunkt der Gesetzwerdung wurde davon ausgegangen, dass die Gründung von Kultusgemeinden in den Königreichen und Ländern in der nächsten Zeit nicht erfolgen wird und die dort bestehende Struktur der Religionsgenossen weitergeführt werden sollte. Da der Organisationsprozess nicht abgeschlossen war, auf dem Gebiet des heutigen österreich nicht einmal begonnen hatte, wurde deren Regelung einer Verordnung vorbehalten. Zu deren Erlassung kam es aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht mehr. Erst 1979 wurden eine Kultusgemeinde und eine Verfassung einer Islamischen Religionsgesellschaft – der heutigen „Islamischen Glaubensgemeinschaft in österreich (IGGö)“ – genehmigt.

– Oliver Henhapel –

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Anerkennung des Islam

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Ministervortrag und Allerhöchste Entscheidung über die Anerkennung des Islam in Österreich-Ungarn. 15. Juli 1912, Bad Ischl.

Das annektierte Bosnien

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Im Zusammenhang mit der Annexion Bosniens wird der Islam 1912 zur offiziell anerkannten Religion in der Doppelmonarchie. Straßenszene Mostar, 1912.

Kaiser Franz Joseph in Bosnien

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Vom 30. Mai bis 3. Juni 1910 besuchte Kaiser Franz Joseph das annektierte Bosnien. In Sarajevo und Mostar wurden Empfänge abgehalten.