"Die Suche nach dem Österreichischen führt uns unweigerlich ins Archiv“
Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des österreichischen Staatsarchivs
Der Nazi-Putsch 1934
Dokument 80
Der Putschversuch der Nationalsozialisten scheitert: Nicht zuletzt mithilfe einer Planskizze eines bis heute unbekannten Informanten können sie zwar rasch das Kanzleramt besetzen, jedoch ohne Kontrolle über die Regierungsgewalt oder den Rundfunk zu erlangen. Bundeskanzler Dollfuß wird von zwei Kugeln tödlich getroffen.
Seit Beginn des Jahres 1933 verschärft die Regierung Dollfuß ihre repressive Politik gegenüber allen politischen Organisationen in Österreich, so auch gegenüber den Nationalsozialisten. Damit werden das Regime und der Ballhausplatz 2 zu einem besonderen Angriffsziel der österreichischen Nazis.
Um die Mittagszeit des 25. Juli 1934 machen sich 154 Angehörige der illegalen SS-Standarte 89 von einer Turnhalle im 7. Bezirk aus in einer Lkw-Kolonne auf den Weg. Sie stecken in Bundesheeruniformen und sind schwer bewaffnet. Ihr Ziel ist das Kanzleramt, in dem an diesem Tag eine Regierungssitzung angekündigt ist. Sie erreichen um 12.50 Uhr den Platz genau zu der Zeit, in der die Torwache abgelöst wird. Sie dringen während der Ablöse ohne Widerstand in das Haus ein, setzen die Exekutive im Parterre fest und vereilen sich blitzschnell über mehrere Treppen im ersten Stock.
Nützlich ist ihnen dabei eine Skizze, die offensichtlich von einer ortskundigen Person angefertigt wurde. (Sie taucht erst 70 Jahre nach dem Putschversuch auf und wird dem Staatsarchiv übergeben.) Aus ihr lässt sich ableiten: Die Putschisten haben Verbündete im Haus, denn sie ist mit so präzisen Anmerkungen versehen, wie sie nur ein Insider erstellen kann. Der Plan muss wenige Tage zuvor entstanden sein, denn es ist bereits das Zimmer von Kanzleramtsminister Ender eingezeichnet, der erst am 19. Juli zum Minister für Verfassungsreform ernannt wurde. Es besteht die Vermutung, dass die Informationen aus dem Staatsarchiv stammen, ist doch der Leiter des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Ludwig Bittner ein exponierter illegaler Nazi.
Die Notizen auf dem Plan zeigen, dass man über die Organisationsabläufe, über die Dienstzeiten der Portiere, über den Standplatz von Gewehren und Munition, über den Aufenthaltsort der Wachmannschaft und des Telefondienstes präzise Bescheid weiß. Und ein symbolischer Judenstern in einem Amtszimmer wird wohl nicht ohne Absicht eingezeichnet worden sein. In der Skizze des ersten Stocks ist die Lage der Präsidentschaftskanzlei exakt angegeben und mit merkwürdigen Symbolen versehen – offenbar ist auch der Bundespräsident Ziel des Putsches, Miklas befindet sich aber an diesem Tag nicht im Amt. Im Bereich der Amtsräume des Bundeskanzlers ist genau jener Weg besonders hervorgehoben, den dann auch der Todesschütze Planetta tatsächlich nimmt. Das Ziel des Attentats, das Amtszimmer des Bundeskanzlers, ist mit einem Vogel gekennzeichnet.
Der Kanzler selbst ist seit dem Morgen schon vorgewarnt, dass ein Anschlag geplant ist, und hat daher kurzfristig die Regierungssitzung abgesagt. Dollfuß wird vom Lärm der Putschisten-Soldateska in seinem Arbeitszimmer, dem Gelben Salon, überrascht. Erschreckt versucht er, mit Minister Fey und Staatssekretär Karwinsky in Richtung Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu entkommen und eilt zunächst in den Säulensaal, da von dort eine Zimmerflucht zur Durchgangstür ins Archiv führt. Im Säulensaal kann man gerade noch die Außentür zum schmalen Flur versperren, doch es ist unsicher, ob der Durchgang ins Archiv offen ist. Schon schlagen die Aufständischen, die von der Feststiege in den schmalen Zugang vorgedrungen sind, an die Tür und versuchen, sie gewaltsam einzutreten.
Da zieht der Amtsdiener Hedvicek Dollfuß wieder zurück in sein Amtszimmer und weist dem Kanzler eine andere Fluchtrichtung, nämlich die zur Wendeltreppe im grauen Ecksalon, über die man in den Keller oder in die oberen Geschoße gelangen kann. Sie laufen durch das Arbeitszimmer in das Eckzimmer, den heutigen Marmorecksalon. Schon haben sie die Tür zum Kongresssaal erreicht, als mehrere Uniformierte mit schussbereiter Pistole aus dem Stiegenhaus ins Zimmer stürzen, Otto Planetta an der Spitze. In rascher Folge fallen zwei Schüsse. Dollfuß hebt die Hände wie schützend gegen den Kopf und schlägt zu Boden.
Die zwei Schüsse treffen Bundeskanzler Dollfuß aus nächster Nähe in die Halsgegend, verletzen ihn schwer und führen binnen weniger Stunden zu seinem Tod. Er stirbt um 15.45 Uhr im Ecksalon, nachdem ihm ärztlicher Beistand verweigert wurde. Die Schüsse kommen aus zwei verschiedenen Waffen mit unterschiedlichen Kalibern. Man muss also annehmen, dass zwei Personen geschossen haben, nicht nur Planetta. Doch eine zweite Person wurde niemals angeklagt. Erst vor wenigen Jahren tauchte ein zweiter Name auf, nämlich Rudolf Prochaska – ehemaliger Luftwaffenoffizier und illegaler SA-Aktivist.
Der ganze Putschversuch ist derart dilettantisch angelegt, dass sein Scheitern rasch erkennbar wird. Mit dem Tod von Dollfuß haben die Putschisten ihr wichtigstes Druckmittel, nämlich den Kanzler als Geisel, verloren. Sie haben zudem keinen Nachrichtenkontakt aus dem Kanzleramt nach außen zu ihrer Parteiführung, in die Stadt oder in die Bundesländer. Die gesamte Bundesregierung ist weiterhin in Funktion. Die geplante gleichzeitige Übernahme des Rundfunks ist gescheitert.
So bleibt den Nazis am Ballhausplatz nur mehr das Verhandeln über die Möglichkeit eines Abzugs mit freiem Geleit, bei dem Emil Fey über Stunden die Rolle des mehrfachen Botengängers, Unterhändlers und Kontaktmanns spielt, mit dem die Putschisten auch ganz offen und unbefangen reden. Diese Verhandlungen finden in den Räumen des rechten Flügels statt, wo sich die Putschisten in den Amtsräumen des Kanzlers und die Regierungsvertreter im späteren kleinen Ministerratssaal aufhalten. Bis halb acht am Abend dauern diese Verhandlungen über den Flur hinweg, dann geben die Nazis kampflos auf. Jetzt wendet sich das Blatt völlig, denn die Regierung zieht ihre Zusage für ein freies Geleit zurück, da sich für sie durch die Ermordung von Dollfuß die Sachlage völlig geändert hätte; dass sie davon schon zuvor Kenntnis hatte, wird verschwiegen.
Letztlich werden die im Gebäude befindlichen Putschisten festgenommen und einem Militärgericht übergeben, das Schnellverfahren durchführt. Acht Attentäter werden zum Tod verurteilt und hingerichtet.
– Wolfgang Maderthaner –
Skizze des Bundeskanzleramtes
Dokument 80
Schematische Darstellung des Bundeskanzleramts (Erdgeschoß und 1. Stock), die den Naziputschisten des Juli 1934 zur Verfügung stand.
Dokument 80
Privatbesitz