Österreich ist frei

Dokument 95

Dem berühmtesten Ausspruch Leopold Figls anlässlich der Staatsvertragsunterzeichnung am 15. Mai 1955 ging ein Jahrzehnt des Hoffens und Bangens voraus, in dem Österreich zum Spielball des Ost-West-Konflikts wurde. Das Moskauer Memorandum vom April 1955 ist ein Schlüsseldokument der Zweiten Republik, die darin verankerte Einigung mit den Sowjets über die immerwährende Neutralität der Schlüssel zum Erfolg und zur Wiedererlangung der Freiheit.

Die Heimkehr gestaltete sich zu einem Triumphzug sondergleichen, zu einer, wie die Tagespresse übereinstimmend feststellte, elementaren Manifestation österreichischen Freiheitswillens. Am Vormittag des 15. April 1955 hatte die aus Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf, Außenminister Leopold Figl und Staatssekretär Bruno Kreisky bestehende großkoalitionäre Regierungsdelegation im Moskauer Amtssitz Molotows ein in der Form eines Gedächtnisprotokolls gehaltenes Memorandum unterzeichnet, um 17 Uhr war die Sondermaschine auf dem Vöslauer Flughafen gelandet. Tausende, zigtausende Menschen säumten den Weg der Delegation nach Wien, wo sie bei der Spinnerin am Kreuz und vor dem in ein rot-weiß-rotes Fahnenmeer getauchten George Washington-Hof von Bürgermeister Jonas in Empfang genommen wurde. Ein Jahrzehnt lang hatte das in vier Besatzungszonen geteilte und von der permanenten Gefahr einer territorialen und politischen Spaltung bedrohte Land um die Wiedererlangung seiner vollen Souveränität gerungen, nunmehr war der Abschluss eines Staatsvertrags in greifbare Nähe gerückt.

Vor dem Hintergrund der im Oktober 1954 unterzeichneten und Ende Februar 1955 vom Deutschen Bundestag ratifizierten Pariser Verträge, die das Besatzungsregime in Westdeutschland beendeten, vor dem Hintergrund aber auch der von Chruschtschow eingeleiteten Entstalinisierung, war Österreich von 12. bis 15. April 1955 zu Verhandlungen nach Moskau eingeladen worden; von sowjetischer Seite nahmen daran Außenminister Molotow und der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats, Mikojan, teil. Das im Spiridonowka-Palast erstellte Schlusskommuniqué wies spektakuläre Erfolge für Österreich auf – von der Art, dass die New York Times von einer Revision der bisherigen russischen Taktik und einem entscheidenden Einbruch in den seit der Korea-Krise so dramatisch eskalierten Kalten Krieg sprach. Österreich, so der allgemeine Tenor, könne damit erneut zu einem „Katalysator der Weltpolitik“ werden.

Dem Gesamteindruck des Dokuments tut der Textverlust jedoch keinen Abbruch. Charakteristisch ist das Chrismon zu Beginn des Textes, mit dem in zeichenhafter Form Gott angerufen wird. Die Buchstaben in der ersten Zeile sind in die Länge gezogen – dadurch wird der Text dieser Zeile hervorgehoben. Die Schrift an sich ist insgesamt leicht links geneigt und entspricht dem Vorbild der alten Merowinger-Urkunden. Sie ist stark kursiv, das heißt, die einzelnen Buchstaben sind oftmals miteinander verbunden.

Das Memorandum brachte zunächst den Wunsch beider Seiten nach einem ehebaldigen Abschluss des Staatsvertrags im Rahmen einer Fünfmächtekonferenz zum Ausdruck und legte die dafür notwendigen Bedingungen fest. Die wiederhergestellte unabhängige und demokratische Republik Österreich werde keinerlei militärischen Bündnissen beitreten oder militärische Stützpunkte auf ihrem Gebiet dulden; die Truppen der alliierten Besatzung sollten nach Inkrafttreten des Vertrags bis spätestens 31. Dezember dieses Jahres abgezogen werden. Die augenfälligsten Zugeständnisse aber konnten auf dem Gebiet der künftigen wirtschaftlichen Gestaltung Österreichs erreicht werden; sie ergänzten respektive änderten in wesentlichen Teilen die Bestimmungen des bisherigen Vertragsentwurfs und ließen die Unabhängigkeit des Landes real und umfassend werden. So erklärte sich die Sowjetunion bereit, die im Entwurf vorgesehene Ablöse für die (als deutsches Eigentum beschlagnahmten und nach österreichischen Gesetz bereits großteils verstaatlichten) USIA-Bestriebe in der Höhe von 150 Millionen Dollar nunmehr in Form von Warenlieferungen zu akzeptieren. Gleichfalls konnte eine Einigung in der überaus sensiblen Frage der (zu diesem Zeitpunkt enorm ertragreichen) Zistersdorfer Erdölquellen erzielt werden; anstelle der bislang vorgesehenen sechzigprozentigen Ausbeutung über eine Dauer von drei Jahrzehnten nach Abschluss des Staatsvertrags willigte die Sowjetunion nunmehr in Rohöllieferungen von 10 Millionen Tonnen über ein Jahrzehnt ein. Die Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft mit allen Anlagen inklusive der Korneuburger Werft, die ursprünglich zur Gänze in sowjetischen Besitz bleiben sollte, wurde ebenfalls abgelöst. Zum ökonomischen trat der humanistische Aspekt: Auf persönliche Intervention von Bundespräsident Theodor Körner – von dem es hieß, er verhandle mit den Besatzungsmächten in fünf Sprachen, der jeweiligen Landessprache und der Sprache der Generale – sagte das Präsidium des Obersten Sowjets die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen zu, auch wenn diese von sowjetischen Gerichten rechtskräftig verurteilt worden waren.

Das eigentliche Kernstück aber des Übereinkommens, die künftige Neutralität Österreichs und deren Garantie durch die alliierten Mächte, wird in expliziter Form gleich auf Seite eins des Memorandums angesprochen. Eine Neutralisierung der Zweiten Republik nach dem Vorbild der Schweiz, nunmehr definitive russische Option, sollte von der österreichischen Bundesregierung in Form einer durch die Sowjetregierung anerkannten Deklaration bestätigt werden. Der Weg zur Unterzeichnung des Staatsvertrags (15. Mai 1955) war somit nach zehn langen Jahren der Besatzung frei, am 25. Oktober 1955 verließ der letzte fremde Soldat das Land, tags darauf wurde das Bundesverfassungsgesetz über die „immerwährende Neutralität“ Österreichs beschlossen.

– Wolfgang Maderthaner –

Mehr Weniger

Das „Moskauer Memorandum“

Dokument 95

Das Abkommen zwischen der sowjetischen und der österreichischen Regierung vom 15. April 1955 war wesentlicher Bestandteil für die Wiedererlangung der österreichischen Souveränität (österreichisches Alternat in deutscher und russischer Sprache)