Emma Adler und der Sturm der Zeit

Dokument 52

Der hochbegabte Intellekt der 1935 verstorbenen Emma Adler, geb. Braun, findet Niederschlag in journalistischen, schriftstellerischen und übersetzungs- tätigkeiten, durchbrochen von Depression und Zerrüttung durch finanzielles und familiäres Malheur an der Seite ihres Mannes Victor Adler.

Emma Adler ist, wenn überhaupt, dann höchstens als Ehefrau Victor Adlers oder als Mutter von Friedrich Adler in unserem historischen Gedächtnis verankert. Während sich der eine als Begründer der österreichischen Sozialdemokratie in die Geschichte eingeschrieben hat [Der Hofrat der Revolution und Frei, gleich, männlich], ist der andere durch seine „Schüsse gegen den Krieg“ – das aufsehenerregende Attentat auf Ministerpräsident Stürgkh im Jahr 1916 – immer wieder Thema zeithistori- schen Forschens [Das Attentat, relativiert].

Emma Braun, so ihr Mädchenname, wurde am 20. Mai 1858 in Debrecen, einer Stadt im Osten von Ungarn, geboren. Sie wächst als einziges Mädchen unter fünf Brüdern in einem, laut eigenen Beschreibungen, streng „alttestamentarisch“ geführten Haushalt auf. Die Familie lebt zu Beginn an unterschiedlichen Orten der Habsburgermonarchie, je nachdem, wo der Vater als Eisenbahningenieur einen Auftrag erhält. Emma bekommt durch Privatunterricht eine umfassende Ausbildung in Sprachen wie Englisch, Französisch, Italienisch sowie in Musik und Literatur. Gleichzeitig mit den groß einsetzenden Migrationsströmen übersiedelt auch die Familie Braun in den 1870er-Jahren endgültig nach Wien, wo sie zunächst in der Leopoldstadt – eine der ersten Anlaufstellen jüdischer Zuwanderung – und später, gesellschaftlich aufgestiegen und gut situiert, am Schwarzenbergplatz Quartier bezieht.

Die jungen Brauns führten zu dieser Zeit eine Art Salon, wo sich an Samstagen regelmäßig Studienkollegen und Freunde trafen. Emmas ältester Bruder Heinrich, der sich schon als Student mit dem Sozialismus beschäftigte, lud zu einem dieser Abende den damals gerade frisch promovierten Mediziner Victor Adler ein. Für Heinrich war er, neben Friedrich Nietzsche, der einzig mögliche Heiratskandidat für Emma. Und tatsächlich vermählte sich, nach einer nur kurzen Verlobungszeit, die 20-jährige Emma Braun mit dem um sechs Jahre älteren Victor Adler. Dieser Ehe entstammen drei Kinder: Friedrich Wolfgang, Marie und Karl.

Emma Adler hält sich, im Gegensatz zu ihrem Mann, parteipolitisch im Hintergrund und definiert sich selbst als „Gefühlssozialistin“, kämpft jedoch an seiner Seite für die gemeinsamen politischen wie sozialen Utopien. „Victor und ich waren voll Enthusiasmus, wir fühlten uns als neue Menschen berufen für eine bessere Zukunft Aller zu kämp- fen. [...] Das Leben schien uns endlos, unsere Kräfte unerschöpflich und unser Glaube war unerschütterlich. Die Gegner waren uns erwünscht, wir wollten uns gern mit ihnen messen!“

Vor diesem Hintergrund ist Emma Adler eine der Ersten, die Fragen der Frauengleichstellung thematisiert. Sie arbeitet für die Gleichheit und später für die Arbeiter-Zeitung als übersetzerin und Journalistin, redigiert die Jugendbeilage der Arbeiterinnen-Zeitung und gibt Lesebücher mit dem Titel „Für die Jugend“ heraus. Sie unterrichtet Sprachen im Arbeiterbildungsverein Gumpendorf, übersetzt sozialkritische Literatur aus dem Französischen und Russischen und publiziert – als eine Pionierarbeit der Frauengeschichtsschreibung – Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795 sowie eine Biografie von Jane Welsh Carlyle, der Ehefrau des Philosophen und Historikers Thomas Carlyle. Unter dem Pseudonym Marion Lorm verfasst sie die deutsche Erstübersetzung von Les liaisons dangereuses (Gefährliche Liebschaften) von Choderlos de Laclos.

Emma Adlers Charisma, ihre Klugheit und Schönheit inspirieren Intellektuelle und Künstler. Der Maler Emanuel Oberhauser wählt sie als Modell für sein Marienbild in der Kirche von Nußdorf am Attersee. Der Schriftsteller Hermann Bahr spricht von drei Frauen, deren Freundschaft er außergewöhnlich schätzt: „Cosima Wagner, Eleonore Duse und Emma Adler.“ Er widmet Emma ein Theaterstück und zieht den Vergleich mit einer Figur aus Adalbert Stifters Nachsommer: „Ein Stifterglanz lag auf ihrer schweren ernsten stillen Erscheinung. In Stifterluft wuchsen ihre Kinder auf, Fritz und Karl.“

Der anfängliche, scheinbar ungebrochene Enthusiasmus, die Kraft und das Engagement werden erstmals 1891 erschüttert, als Emma erfahren muss, dass ihre Eltern schlagartig verarmt sind und ihre Mitgift, ein Gut in Ungarn, unter den Gläubigern aufgeteilt worden war. Ein Jahr zuvor musste Victor Adler zudem wegen „Aufwiegelung der Massen“ seine erste Haftstrafe von vier Monaten verbüßen. Hinzu kommt für Emma ein Gefühl der Ausgrenzung, als ihr Mann sich und die drei Kinder taufen lässt und zum Protestantismus konvertiert, ein Schritt, den sie aus Achtung vor ihren Eltern nie vollzieht. Das Schreckensbild der „armen Jüdin“ lässt sie psychisch zusammenbrechen. Die ärztliche Diagnose: „Angstmelancholie“. Die Symptome: Schlafstörungen, Nahrungsverweigerung, Gewichts- verlust, Halluzinationen, Selbstverletzung, Selbstmordideen, Wahnvorstellungen, die Kinder würden verhungern. Emma Adler wird monatelang mit Opium behandelt und ist für Jahre rekonvaleszent, bevor sie wieder in die Normalität zurückkehren und sich ihrer Familie und ihrer schriftstellerischen Tätigkeit widmen kann. Die pekuniären Schwierigkei- ten und die Sorge um die finanzielle Absicherung werden die Adlers und vor allem Emma ihr Leben lang begleiten.

Die schwere Erkrankung der Tochter Marie, die ab ihrem zwanzigsten Lebensjahr in der Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke am Steinhof interniert ist und dort 1931 sterben wird, die erschütternde Tat ihres Sohnes Friedrich und das Bangen um sein Leben, sowie die Unfähigkeit ihres jüngeren Sohnes Karl, in der bürgerlichen Welt Fuß zu fassen, sind weitere Schick- salsschläge. So scheint es nachvollziehbar, dass Emma Adler in der Rückschau ihre Memoiren mit „verfehltes Dasein“ und „Irrwege durch das Gestrüpp meines Lebens“ überschreibt.

Nach dem Tod Victor Adlers am 11. November 1918 gerät sie erneut in eine schwere psy- chische Krise, die in einem Selbstmordversuch kulminiert – jahrelange ärztliche Betreuung und Sanatoriumsaufenthalte sind die Folge. 1925 holt sie ihr erstgeborener Sohn Friedrich in die Schweiz, wo sie an ihren Lebenserinnerungen zu arbeiten beginnt. Am 23. Februar 1935 stirbt Emma Adler im Alter von 77 Jahren in Zürich.

– Michael Maier –

Mehr Weniger

Emma Adler

Dokument 52

Schriftstellerin, Journalistin, Übersetzerin, verheiratet mit Victor Adler.

Handschriftliche Memoiren

Dokument 52

Auszüge aus Emma Adlers handschriftlichen Memoiren. 1930–1934, Zürich.