Mussolini - Dollfuß: Eine Korrespondenz

Dokument 77

Bundeskanzler Dollfuß erkennt das zunehmende Bedrohungspotenzial des Nationalsozialismus, sucht Halt bei Mussolini und ist bemüht, unter Anrufung des Allmächtigen die Idee eines Ständestaats als reaktionärautoritären Gegenwurf zu Moderne und Marxismus zu entwickeln.

Wie der für die Kontrolle der Staatsfinanzen zuständige Völkerbund-Kommissär (und nachmalige prominente holländische Nationalsozialist) Rost van Tonningen seinem Tagebuch anvertraute, habe man zusammen mit Kanzler Engelbert Dollfuß und dem Präsidenten der Notenbank, Viktor Kienböck, die Ausschaltung des Parlaments für unabdingbar gehalten, da dieses Parlament die notwendige Rekonstruktionsarbeit sabotiert hätte. Zugleich setzte sich das von der christlich-sozialen, altösterreichisch-legitimistischen und anschlussfeindlichen Fraktion dominierte Regierungslager gegen eine drohende Annexion durch das Deutsche Reich und den Nationalsozialismus zur Wehr. Die damit in Gang gesetzte autoritäre Dynamik wurde durch den italienischen Einfluss – dem sich Dollfuß regelrecht unterworfen hatte, um die Unterstützung gegen das Dritte Reich zu erkaufen – weiter intensiviert. In einem Brief vom 1. Juli 1933 hatte Mussolini Dollfuß nachhaltig gedrängt, ein Programm von „effektiven und wesentlichen internen Reformen in entschieden faschistischem Sinne“ durchzuführen, der Sozialdemokratie „in ihrer Felsenfestung Wien einen Schlag [zu] versetzen“ und die Säuberungsaktion auf „alle Zentren“ auszudehnen, die „im Gegensatz zum Autoritätsprinzip des Staates zersetzende Tendenzen verfolgen“.

Am 18. August 1933 traf Dollfuß in Riccione den Duce, der ihm nachdrücklich „eine große politische Rede“ in den ersten Septembertagen empfahl, in der die Unabhängigkeit und Erneuerung Österreichs, der „diktatoriale Charakter“ des Regimes, die Einsetzung eines Regierungs-Kommissärs für die Gemeinde Wien und das Projekt einer Verfassungsreform auf faschistischer Basis angekündigt werden sollten. Tatsächlich hat Dollfuß im Rahmen der Feiern zum 250. Jahrestag der Befreiung Wiens von der türkischen Belagerung am 11. September dieses Jahres eine große programmatische Rede am Wiener Trabrennplatz gehalten. In ihr klangen all jene Punkte an, die späterhin zu zentralen Legitimationsmustern des Austrofaschismus werden sollten: die Schaffung einer „neuösterreichischen“, gegen das Dritte Reich gerichteten Identität, der romantisierende Rekurs auf eine „Reichsidee“ und das Konstrukt einer spezifisch österreichischen, katholisch-abendländischen deutschen Mission sowie die Schaffung eines „sozialen, christlichen, deutschen Staates Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung“.

Der Ständestaat wurde jedenfalls als ein Gegenentwurf zu den Konsequenzen der modernen Industriegesellschaft, der Moderne insgesamt, proklamiert. Diese Rede war getragen von feudalen Reminiszenzen und antimodernistischen Affekten, verwachsen mit althergebrachten Vorstellungen eines gottgewollten Oben und Unten, versehen mit vagem antikapitalistischem Sentiment. Dahinter stand die Sehnsucht nach der organischen, der naturrechtlichen Gesellschaft mit ihrer nicht zu hinterfragenden sozialen Hierarchisierung. Ein Gesellschaftsvertrag im Sinne der Aufklärung, parlamentarische Demokratie, autonome Arbeiterorganisationen, konkurrierende Massenparteien hatten in diesem Weltbild keinen Platz.

Die entscheidende Auseinandersetzung wurde um das „Rote Wien“ geführt. Man sei gegenwärtig darauf bedacht, schrieb Dollfuß an Mussolini am 22. Juli 1933, den „Marxisten“ die finanziellen Mittel, die sie sich durch ihren übermächtigen Einfluss in der Gemeinde verschafft hätten, „recht einschneidend zu verringern“. Mit Suspendierung der Demokratie und dem Umschwenken auf einen autoritären, pseudolegalen Notverordnungskurs ab März 1933 hatten die Maßnahmen der Bundesregierung den Charakter eines bewussten und strategisch angelegten finanziellen Vernichtungsfeldzugs gegen Wien angenommen. Mit 16 Notverordnungen wurde der Finanzhaushalt der Gemeinde planmäßig und endgültig destabilisiert. Insgesamt hatten sich die Ertragsanteile in diesem Jahr auf ein Drittel des Wertes von 1929 reduziert, die allein durch die Maßnahmen der Bundesregierung entstandenen Verluste entsprachen einem Viertel der Budgetausgaben des Jahres 1933. Wien stehe unter diesen Umständen, so der Österreichische Volkswirt, vor einer Aufgabe, „wie sie wohl noch kaum je einem Gemeinwesen gestellt war“.

In der Tat war der soziale Wohnbau unter dem Einfluss der autoritären finanzpolitischen Maßnahmen zusammengebrochen, die Wohnbausteuer ihrer Zweckgebundenheit entkleidet und zu knapp 50 Prozent dazu herangezogen, den definitiven Zusammenbruch der Gemeindefinanzen abzuwenden. Die materielle, kulturelle und letztlich soziale Basis eines faszinierenden kommunalpolitischen Experiments war entscheidend ausgehöhlt. Die im Schreiben an Mussolini formulierte Strategie, „die marxistische Mentalität, marxistische Formen und Organisationen zu überwinden und diese durch einen über den Klassen stehenden Staatspatriotismus und durch berufsständischen Aufbau unter weitgehender Ingredienz einer mit starker Autorität ausgestatteten Regierung zu ersetzen“, war ins Stadium der Konkretisierung eingetreten.

– Wolfgang Maderthaner –

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Briefwechsel Mussolini - Dollfuss

Dokument 77

Die Korrespondenz zwischen dem "Duce" und dem Bundeskanzler des Ständestaates Engelbert Dollfuß.