Kakanien

Dokument 48

Mit den verfassungsrechtlichen änderungen des österreichisch-ungarischen Ausgleichs erhält das habsburgische Kaiserreich 1867 seine letztgültige Umformung: die kaiserlich und königliche (k.u.k.) Doppelmonarchie teilt das Land in zwei Reichshälften, Ungarns institutionalisierte Autonomie durchbricht den Zentralismus.

über drei Jahrhunderte war die ungarische Grundherrenklasse der überragende, in jeder Hinsicht artikulationsfähige und nachdrückliche Gegenspieler des habsburgischen Zentralismus gewesen – partikularistisch und repressiv. Das Selbstbewusstsein und auch die politische Aggressivität des magyarischen Adels, im Besonderen aber der großen Magnaten, nahmen mit dem stetigen Zuwachs an Besitzungen und Latifundien sukzessive zu – ironischerweise durch die theresianisch-josephinische Agrarpolitik ebenso befördert wie ganz allgemein durch den landwirtschaftlichen Boom der Aufklärungsepoche. Familien wie die Esterházys konnten sagenhafte, kaum zu vergleichende Besitztümer anhäufen, den herausragenden Musiker seiner Zeit – Joseph Haydn – als Hauskomponisten engagieren und, neben dem prachtvollen Familienschloss in Eisenstadt, in Fertőd inmitten der endlosen Schilf- und Getreidefelder um den Neusiedler See einen an Versailles gemahnenden Herrschaftssitz anlegen.

Zum anderen sah die Krone in einer ganz bestimmten Form merkantilistischer Wirtschaftspolitik ein probates Mittel, die ökonomische Entwicklung Ungarns bewusst zu hemmen und den österreichischen Unternehmungen damit entsprechende Märkte zu sichern. Ungarn wurde zeitweise auf den Stand einer Kolonie gedrückt; allerdings konnte das Land, da der magyarische Adel sich weigerte, Steuern zu zahlen, kaum auf einem anderen Weg als jenem der Zollpolitik zur Kontribution herangezogen werden. Im ständischen Doppelstaat lag die Gewerbe- wie die Zollgesetzgebung in der Hand des Kaisers, seit 1687 erblicher König von Ungarn. Die ausschließliche Anwendung und Indienstnahme dieser Rechte im Interesse der Erblande und zum Nachteil der Länder der Stephanskrone zog enorme Erbitterung nach sich; die Entwicklung der Produktivkräfte wurde spätestens in den frühen 1840er-Jahren zur gängigen Parole ungarischer Unabhängigkeit. Bestrebungen, die vor allem auch im Kampf um die offizielle Etablierung der magyarischen Sprache Auftrieb erhalten hatten und welche die Adelsnation geschickt zu instrumentalisieren verstand. Im Ringen der absolutistischen Zentralgewalt um die Schaffung eines Einheitsstaates und die Beseitigung aller ständischen Verfassungen (und damit aller Sonderrechte) seiner Königreiche und Länder hatte Joseph II. den Geltungsbereich der deutschen Sprache auch über Ungarn auszudehnen versucht. Die Stände setzten sich massiv und erfolgreich gegen die Einführung der lingua peregrina zur Wehr; 1792 wird das Magyarische Unterrichtssprache, durch die Gesetze von 1836 und 1844 ersetzt es das Lateinische als Staatssprache.

Der kurze Traum kultureller wie politischer Eigenständigkeit im Gefolge des gesamteuropäischen Revolutionsjahres 1848 fand allerdings abrupt ein Ende. Eben erst inthronisiert, entschloss sich der 18-jährige Franz Joseph 1849 zum Bündnis mit dem Erzfeind der revolutionären europäischen Demokratie, Russland [Neoabsolutismus]. Mit massiver zaristischer Waffenhilfe und blutigem Terror wurde das aufständische Ungarn niedergeworfen, der Militärverwaltung unterstellt, seiner hergebrachten Rechte und Selbstverwaltungsorgane beraubt, dem zentralistischen Gesamtstaat eingegliedert. In Abstimmung mit dem Kaiser wurden am symbolträchtigen 6. Oktober 1849 (dem ersten Jahrestag der entscheidenden Erhebung in Wien) 13 Befehlshaber der ungarischen Armee in Arad und – unter demütigenden Umständen – der ehemalige Premierminister Lajós Graf Batthyány in Pest exekutiert. Hunderte Hinrichtungen, darunter eine nicht mehr eruierbare Anzahl von Erschießungen „auf der Flucht“, öffentliche Auspeitschungen, Zwangsrekrutierungen und Deportationen ergänzten das Schreckensszenario. Stellvertretend für Lajós Kossuth, Bischof Mihály Horváth und Guyla Andrássy, denen die Flucht gelungen war, schlug man deren Bilder an den Galgen.

Keine zwei Jahrzehnte später spricht Franz Joseph anlässlich der Krönung zum ungarischen König die Eidesformel auf die Verfassung, die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität Ungarns und der Nebenländer. Die Krönung selbst nahm der 1849 noch zum Tode verurteilte, seit Februar 1867 als ungarischer Ministerpräsident amtierende Graf Andrássy vor, und der Monarch erließ zwei enthusiastisch begrüßte Gnadenakte, die eine endgültige Aussöhnung mit dem revolutionären Ungarn der Jahre 1848/49 signalisieren sollten. Der erste umfasste eine allgemeine, ausnahmslose Amnestie für alle seitdem angefallenen politischen Delikte sowie die Rückstellung aller beschlagnahmten Güter; im zweiten wurde das traditionelle Krönungsgeschenk von 100.000 Gulden auf Antrag Andrássys an die Witwen, Waisen und Invaliden der national-ungarischen Honvéd-Armee der Aufstandszeit weitergegeben.

Die katastrophale Niederlage im Feldzug von 1866 hatte nicht nur zum Verlust der Vormachtstellung österreichs in Deutschland geführt, die Krone war auch zu weitgehenden Zugeständnissen gegenüber Ungarn gezwungen [Käniggrätz]. Die Verfassungsfrage wird durch den berühmten Ausgleich von 1867, die Etablierung einer auf dem Prinzip des Dualismus beruhenden Zweistaatlichkeit, gelöst. Es ist die endgültige Absage an das zentralistische Einheitsprinzip: österreich und Ungarn werden selbstständige Staaten (Dualismus), an die Stelle des österreichischen Kaisertums tritt die österreichisch-ungarische Monarchie. Die Krone begnügt sich damit, dass sie durch die einheitliche Armee im ganzen Reich abgesichert ist und dieses Reich nach außen als ein einheitlicher Staat erscheint. Die pragmatischen Angelegenheiten (Heer, Außenpolitik) bleiben mithin dauernd gemeinsam, den Delegationen (je 60 Mitglieder des österreichischen Reichsrats und des ungarischen Reichtags) überantwortet; die dualistischen Angelegenheiten (Zollgesetzgebung, Währung, indirekte Steuern) werden gemeinsam durch Vertrag für jeweils zehn Jahre geregelt. Die politische und soziale Dominanz in der östlichen Reichshälfte fällt dem magyarischen Hochadel und der Gentry zu, im westlichen Cisleithanien herrscht das deutsche liberale Bürgertum. Der ungarische Adel, bislang von den führenden zentralstaatlichen Instanzen ferngehalten, drang nunmehr in das Innere des politischen Machtgefüges vor. Er sollte im Weiteren den militanten und selbstbewussten Flügel der aristokratischen Reaktion repräsentieren, der in zunehmendem Ausmaß Personal und Politik des gesamten Staatsapparats zu dominieren begann.

– Wolfgang Maderthaner –

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Dezember­verfassung

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21. Dezember 1867, Wien. Staatsgrundgesetze von 1867, auch bekannt als Dezemberverfassung.