Mythos Kaprun

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Der gewaltige Komplex der Wasserkraftwerke in den Hohen Tauern versinnbildlicht wie kein anderes Bauvorhaben der Nachkriegszeit den identitätsstiftenden, zukunftsgerichteten Willen zum Wiederaufbau Österreichs. Mehr als 6.000 Zwangsarbeiter hatten hier in der ersten Bauphase (1939–1945) die Grundlagen für den Weiterbau nach dem Krieg geschaffen. Im September des Staatsvertragsjahrs 1955 erfolgt die Inbetriebnahme.

Dieser Kraftwerksbau im Hochgebirge war wie wenige andere geeignet, den nationalen wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zu symbolisieren, „als Sieg der Technik über die Natur und als österreich-patriotisches Gemeinschaftswerk“. Karl Renner bezeichnete bei einem Besuch der Kraftwerksbaustelle 1949 diese als „Leistung des gesamten Bundesvolkes, Sinnbild der österreichischen Volkswirtschaft, Wunderwerk der Naturbeherrschung“.

Dieses Projekt weist freilich über das Nachkriegsösterreich hinaus. In den Hohen Tauern entstand zwischen 1938 und 1955 ein System von Speicherseen und Kraftwerken. Es besteht aus der Oberstufe auf 2040 m mit den Speicherseen Margaritze und Moserboden, der durch die 107 m hohe und 494 m lange Mosersperre sowie durch die 112 m hohe und 357 m lange Drossensperre gestaut wird, und den beiden Krafthäusern Limberg I und II. Danach wird das Wasser im Stausee Wasserfallboden, der durch die 120 m hohe und 357 m lange Limbergsperre gebildet wird, als Hauptstufe auf einer Meereshöhe von 1670 m aufgefangen. Den Abschluss bildet der Klammsee Kaprun, der vor allem für die Erzeugung des Eigenbedarfs an Energie verwendet wird.

Bereits 1928 wurde von österreichischen Technikern und der deutschen AEG ein gigantisches Projekt entwickelt, welches das Oberflächenwasser eines fast 2.000 km² großen Gebietes in Speicherseen umleiten sollte. Dieses Projekt sprengte allerdings die damaligen technischen und finanziellen Möglichkeiten Österreichs. Die wirtschaftliche Depression in den 1930er-Jahren machte die Umsetzung dieser Pläne endgültig unmöglich. Dazu kamen unterschiedliche Auffassungen von der Größe des Projekts und einer Kombination mit der touristischen Erschließung der Gebirgsregion durch ein Schigebiet und der Großglockner Hochalpenstraße, die vor allem vom Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl verfochten wurde.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs begannen unter hohem politischen Druck Schritte zur Umsetzung des Projekts Tauernkraftwerke, das nun als strategisch wichtige Infrastrukturinvestition bewertet und zum „bevorzugten Wasserbau“ erklärt wurde. Als Auftakt erfolgte am 16. Mai 1938, nur zwei Monate nach dem Einmarsch, der propagandistisch ausgeschlachtete Spatenstich durch den Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring. Das darauffolgende Jahr benötigte man für die Neuplanung und Redimensionierung des Projekts und für Vorbereitungsarbeiten, die sich aufgrund fehlender Erfahrungswerte und Expertise schwierig gestalteten.

Auf den Baustellen waren zu Beginn der Bauphase 1 (1939–1945) vorwiegend inländische Arbeitskräfte beschäftigt, mit Kriegsbeginn sank der Anteil der Zivilkräfte auf ein Minimum, und es wurden fast nur mehr Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt. Insgesamt sind 6.300 Zwangsarbeiter aus 20 Nationen in Meldelisten erfasst worden, die Höchstzahl dürfte in den Sommermonaten 1942 und 1943 mit über 4000 erreicht worden sein. Die für die hochalpinen Verhältnisse ungeeignete Ausrüstung, die schlechte Ernährung und der Materialmangel waren die Ursache für zahlreiche Todesfälle, die Zahlen schwanken zwischen 56 und 250 während der Bauphase 1 (allerdings auch 161 Todesfälle in Bauphase 2). Die genannten Bedingungen verzögerten auch den Baufortschritt erheblich. Trotzdem konnte im September 1944 der erste Maschinensatz im Kraftwerk Kaprun Hauptstufe und der Hilfsspeicher am Wasserfallboden in Betrieb genommen werden.

Die Staumauer war allerdings nur 10 m hoch. Mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft kehrte Ruhe auf der Baustelle ein – die Zwangsarbeiter konnten die Lager in Richtung Heimat verlassen, während die meisten Verantwortlichen und Techniker von der amerikanischen Besatzungsmacht verhaftet wurden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass in Bauphase 1 unter NS-Herrschaft die Grundlagen für den nach dem Krieg erfolgten Weiterbau (Bauphase 2) des Tauernkraftwerks gelegt und z.B. rund die Hälfte der für den Bau der Limbergsperre notwendigen Arbeiten geleistet wurden.

Nach dem Krieg herrschte in Österreich extreme Stromknappheit. Die Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Torso des Tauernkraftwerks wurde daher als besonders dringlich eingestuft. Dafür gelang es, Counterpart-Mittel aus dem ERP-Fonds zu lukrieren, nach und nach insgesamt in der Höhe von 1,43 Milliarden Schilling. 1947 wurden die Baustellen neu eingerichtet – Tausende Menschen aus ganz Österreich konnten durch hohe Löhne für diese Arbeit gewonnen werden.

Unter den harten Bedingungen und der extremen Lage der Baustelle bildete sich ein neuer Typ einer Gemeinschaft heraus, scheinbar ohne Interessengegensätze und soziale Differenzen, und als deren Nukleus der stolze Kaprun-Arbeiter, der sich selbst schlicht „Baraber“ nannte, nach dem bayrisch-österreichischen, eigentlich abwertenden Ausdruck für einen ungelernten Bauarbeiter. Zeitungen, Film und Literatur feierten dieses dezidiert österreichische Aufbauproletariat. Wobei heute anzumerken wäre, dass z.B. bei Großprojekten in den USA im Rahmen des New Deal sich ein gleichartiges „patriotisches Landschaftspathos mit volkswirtschaftlicher Autosuggestion verband“.

Am 22. September 1951 konnte die Limbergsperre durch Bundespräsident Körner eingeweiht werden, 1952 nahm das Kraftwerk Kaprun-Hauptstufe den Betrieb auf. Bis 1955 konnten die beiden Sperrmauern des Speichers Margaritze, das Oberstufenkraftwerk sowie der 12 km lange Möllüberleitungsstollen fertiggestellt werden. Offiziell wurden die Tauernkraftwerke durch die Fertigstellung der Mooser- und der Drossensperre am 23. September 1955 in Betrieb genommen.

– Herbert Hutterer –

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Fotoalbum der Arbeits­gemeinschaft Kraftwerk Kaprun H. Rella & Co.

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Fotoalbum der Arbeitsgemeinschaft Kraftwerk Kaprun H. Rella & Co. – Polensky & Zöllner, G. Hinteregger & Söhne – Union Baugesellschaft zum „Andenken“ an das Arbeitsjahr 1951

Das Kraftwerk Kaprun

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Symbol, Repräsentation, Triumph. Apotheose, Sieg der Technik, Bezwingung der Natur, Arbeiterstolz. Kaprun im Jahre 1951.

"Österreich ist frei! Österreich wird noch viel freier werden!“

- Ulli Maier -
Schauspielerin, liest aus "In den Alpen. Drei Dramen" von Elfriede Jelinek