Die Banalität des Bösen

Dokument 86

Der Rassenantisemitismus bricht sich unmittelbar nach dem „Anschluss“ Bahn im „Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht“ (Carl Zuckmayer). Der Phase „wilder Arisierungen“ und pogromgleicher Auswüchse folgt behördlich organisierte, anschwellende Eskalation – Enteignung, Emigration, Deportation, „Endlösung“ durch industriellen Massenmord.

Der alles umfassende Zivilisationsbruch im Gefolge der globalen Finanz- und Spekulationskrise der frühen 1930er-Jahre hat mühsam errichtete kulturelle Dämme brechen lassen, hat den „wildgewordenen und ungebändigten Instinkt“ massenhaft freigesetzt, hat das Dunkle, Abgründige, Andere der Zivilisation mobilisiert. Es war die Umsetzung dessen, was bereits Jahrzehnte davor ausformuliert vorlag. Es war die Freisetzung der Wut, des Vernichtungsdranges des verelendeten, seiner Würde und Hoffnung beraubten Individuums. Die Antisemiten, so sollte Theodor W. Adorno in seiner Dialektik der Aufklärung schreiben, waren daran gegangen, die Welt in jene Hölle zu verwandeln, als welche sie sie immer schon gesehen hatten.

Es war geradezu ein Wesensmerkmal der Großen Depression der 1930er-Jahre, dass sie – nachdem die industrielle Moderne die Arbeit zum höchsten Gut, zum höchsten Prinzip erhoben hatte – ungezählte, zahllose Arbeitswillige dauerhaft vom Arbeitsprozess ausschloss. Die Planmäßigkeit hatte ihren Triumph in den Rationalisierungsleistungen der modernen Industrie erlebt, nunmehr verloren nach Hunderttausenden zählende Menschen planlos ihre Arbeit. Und der Faschismus setzte an genau diesem Punkt an: Er thematisierte die von der Krise ausgelösten gesellschaftlichen Spaltungen als einen sozialdarwinistischen Kampf der Rassen gegeneinander. Diese Konzeption fiel in einem Land mit lange zurückreichenden antisemitischen Traditionsbestand auf fruchtbaren Boden und kam in den Märztagen des Jahres 1938 geradezu eruptiv zum Ausbruch. Und parallel zum „spontanen“ Terror der Basis konstituierte sich, unter massiver deutscher Einflussnahme, ein furchtbarer, ein offizieller, ein staatlich sanktionierter Terrorapparat.

Die soziale Basis der „nationalen Revolution“ stellten zunächst jugendliche Arbeitslose aus bäuerlichem und unterbäuerlichem, aus proletarischem und subproletarischem Milieu, sowie Angehörige einer in ihrem sozialen Gefüge erschütterten, rebellischen, antiklerikalen, deutschnationalen Intelligenz. Aus letzterer rekrutierte sich eine selbsternannte Herrenkaste, deren Denken und Wollen von der (realen ebenso wie imaginierten) Kriegserfahrung geformt war, vom männlich-kriegerischen Ideal unbedingter Entschlossenheit und bedenkenloser Gewalttätigkeit. Dies fordert „ehernen Führerwillen“ und die „kühne Tat“ ein, die revolutionäre Umwälzung des Staates. Dem skeptischen Relativismus des Zeitalters wird das romantische Ideal einer aristokratischen, soldatischen Herrenkultur entgegengestellt, eines heroischen, von unhinterfragter, sieghafter Selbstgewissheit getragenen Nationalismus, einer allmächtigen, totalitären Staatsgewalt. Die radikale Infragestellung jener bürgerlich-demokratischen Kultur, die sich aus der Aufklärung, der bürgerlichen Revolution, dem Liberalismus entwickelt hat, mobilisiert Irrationalismus, den permanenten Appell an Instinkt, Trieb, Intuition. Es bedurfte allerdings der tief greifenden sozialen und kulturellen Erschütterungen und Verwerfungen der schwersten neuzeitlichen Krise, damit sich eine ideologische Sekte wie diese in eine politische Massenbewegung entwickeln konnte – plebejisch, rebellisch, von antikapitalistischen, antisemitischen Ressentiments erfüllt. Sie wurde getragen von den Deklassierten aller Klassen und geleitet von fanatischer Gegnerschaft zu den traditionellen Systemparteien.

Als das probateste Mobilisierungsinstrument der „Bewegung“ erwies sich die brutale, durch keinerlei Schranken gehemmte Realisierung antisemitischer Programmatik.

Die massenhafte Enteignung von jüdischem Vermögen war zunächst „spontan“, im Rahmen der „nationalen Revolution“ abgelaufen, erst mit dem Zwang zum Vermögensnachweis für Juden (Verordnung vom 26. April 1938) und der Einrichtung einer Vermögensverkehrsstelle erfolgte im Mai 1938 die Verstaatlichung der Arisierungen und die planmäßige Inangriffnahme einer „Entjudung der Wirtschaft“. Der jüdischen Bevölkerung, die zum allergrößten Teil in der Bundeshauptstadt ansässig war, wurde ein Vermögen von bis zu 2,9 Milliarden Reichsmark – was dem Eineinhalb- bis Zweifachen des Gesamtbudgets des dem Deutschen Reich eingegliederten Bundesstaates Österreich entspricht – de facto zur Gänze entzogen. Die planmäßige Arisierung wurde nicht zuletzt (und entgegen den Bereicherungs- und Versorgungsintentionen der ortsansässigen Parteimitgliedschaft) als ökonomisches Strukturbereinigungs- und Modernisierungsprogramm im Sinne der Großund leistungsfähigen Mittelindustrien unter kriegswirtschaftlichen Aspekten betrieben.

Die nationalsozialistische Judenpolitik wurde nach Kriegsbeginn in einem nicht fasslichen Ausmaß noch radikalisiert; sie entzieht sich der rationalen Erklärung. Nachdem Vermögensentzug, Wohnungsraub, Entlassungen und Berufsverbote, Ausschluss aus dem Hochschulstudium, aus künstlerischen Berufen, aus der Presse etc. die wirtschaftliche Grundlage des österreichischen Judentums zerstört hatten, wurde der Terror in Richtung forcierter Emigration geführt. Es war ein Prozess der Selbstenthauptung. Wien hat sich seiner intellektuellen, kulturellen, ökonomischen und politischen Eliten beraubt, ist seiner Stellung als Metropole und Weltstadt, als paradigmatischer Brennpunkt, als Schlüsselort der Moderne endgültig und unwiederbringlich verlustig gegangen. Der weitere Verlauf des Terrors folgt der ihm eigenen, tödlichen und zwingenden Logik: Zunächst wurden die mobilen, intellektuell und ökonomisch am weitesten entwickelten Schichten zur Auswanderung gezwungen, das verbleibende, überalterte Segment der jüdische Bevölkerung dann einem Verelendungsprozess ausgeliefert; mithin für das Regime nutzlos geworden, wird die Deportation, die „Umsiedlung“ zur Voraussetzung für die physische Vernichtung. Der dafür Haupt-, wenn auch keinesfalls Alleinverantwortliche Adolf Eichmann war ein Bürokrat und folgte bürokratischen Logiken. Hannah Arendt hat dafür das berühmt gewordene Diktum von der „Banalität des Bösen“ geprägt.

– Wolfgang Maderthaner –

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Beschlagnahme jüdischen Vermögens

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Beschlagnahmeverfügung für das Vermögen von Hans Karplus vom 18. Juni 1941, Wien. Der in der Verfügung erwähnte Sohn Martin, als Achtjähriger aus Wien vertrieben, wurde 2013 als Professor an der Harvard University gemeinsam mit Michael Levitt und Arieh Warshel mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

Vermögensanmeldung bei der Reichsfluchtsteuerstelle

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Vermögensanmeldung vom 27. April 1938 und weitere Ermittlungen zum Vermögen der Familie Karplus, Wien.