Der Herr Karl

Dokument 96

Der von Carl Merz verfasste und von Helmut Qualtinger kongenial personifizierte Herr Karl (1961) zeigt wie kein anderer Text dieser Zeit die mentalitätspolitische Ambivalenz des Kleinen Mannes: opportunistisch, borniert, wehleidig, selbstgefällig.

Es ist eine Ökonomie des Mangels und des Überlebens, die den wirtschaftlichen Wiederaufbau zunächst kennzeichnet, eine Kultur des alltäglichen Improvisierens und Organisierens. Die terroristische, mörderische Dimension des Faschismus wurde aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt; wohl wäre im Kontext des allgemeinen Traumas ein Neuanfang ohne Verdrängung auch nur schwer denkmöglich gewesen. Die antidemokratischen, autoritären, xenophoben Ebenen des Nationalsozialismus wirkten allerdings gleichsam unter der Oberfläche weiter und prägten eine auf das unmittelbare Hier und Jetzt konzentrierte und eingeengte Alltagskultur. Die Ökonomie des Mangels korrelierte mit einer Politik der Amnesie.

Kulturell dominant wurde vor diesem Hintergrund eine aus dem Austrofaschismus hergeleitete, katholisch inspirierte Austrophilie; eine restaurative Ästhetik des Sublimen und Soliden, die das Bild einer harmonischen, an ihren barocken Traditionen und aktuellen Bilderbuchlandschaften orientierten Wertegemeinschaft vermitteln sollte. Die lokalen Eliten pflegten den Opfermythos (Österreich als erstes Opfer der Aggression des NS-Staates) und eine rückwärtsgewandte Ideologie des Österreichertums, die mit einer tendenziellen Provinzialisierung des Kunst- und Kulturbetriebs einherging. Selbst führende und um die Wiederanknüpfung an die Moderne des Fin-de-Siècle vorrangig bemühte Intellektuelle der politischen Linken – wie etwa der kommunistische Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka, KZ-Häftling und vor 1938 dem katholischen Sozialreformflügel zugehörig – hingen einem neuen Österreichpatriotismus an. Es ging darum, das im Faschismus in all seiner fatalen und tödlichen Sprengkraft manifest gewordene (Deutsch-)Nationale zugunsten einer Kulturbestimmung des Österreichischen aufzuheben und damit zugleich den Kulturkampf und die gesellschaftliche Spaltung der Zwischenkriegszeit im Sinne einer neuen, übergeordneten Konsenspolitik zu überwinden. Zudem verschärften die internationalen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges die antiaufklärerischen und isolationistischen Motive eines vorherrschenden Kulturkonservativismus.

Momente der intellektuellen und künstlerischen Öffnung – wie sie etwa die Wiener Gruppe um Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Oswald Wiener und Gerhard Rühm und anfangs auch H. C. Artmann oder das von Friedrich Cerha geleitete Ensemble für moderne Musik die reihe repräsentierten – blieben vereinzelt, vermochten jedoch umso massiver zu verstören. Wobei das größte Störpotenzial wohl von der popularen Kunstform des Kabaretts ausging, und hier im Besonderen von dem Ensemble um Gerhard Bronner, Carl Merz, Louise Martini, Georg Kreisler und Helmut Qualtinger, einem Giganten der Kleinkunst, den man früh schon mit Orson Welles zu vergleichen begann. Bronner – aus jüdisch-proletarischem Favoritner Milieu stammend und 1948 aus Palästina remigriert – porträtierte seine Protagonisten mit unvergleichlicher sprachlicher Brillanz, einzigartiger Milieukenntnis, klassisch-wienerischer Mehrdeutigkeit – kongenial umgesetzt in den ironisch-zynischen, gelegentlich ins Süffisante, ja Dämonische umschlagenden Interpretationen Qualtingers. Dem berüchtigten Tanzlokal Thumser in der Neulerchenfelderstraße haben sie mit ihrem G’schupften Ferdl (1952) ein einzigartiges literarisch-musikalisches Denkmal gesetzt.

Der Herr Karl (1961) gerät dann schlicht zum Geniestreich. „Bei mia woa immer a ein bisserl das Herz dabei“, „Ich bin bitter enttäuscht worden“, und „Orgien im Gemeindebau“: Mit der Figur des ewigen Spießers, in der auf eine radikal moderne Formensprache reduzierten Fernsehregie Erich Neubergs, legte Qualtinger eine beispiellos präzise und schonungslose Bestandsaufnahme der österreichischen Seele vor. Der gemeinsam mit Carl Merz verfasste Monolog eines sechzigjährigen Lagerhilfsarbeiters zählt zu den großen Texten der österreichischen Nachkriegsliteratur; er seziert wie kein zweiter die Abgründe opportunistischer Selbstzufriedenheit, faschistoider Borniertheit und selbstgenügsamer Verschlagenheit, aber zugleich doch auch das prekäre, perspektivlose Ausgeliefertsein des kleinen Mannes an die faktische Gewalt der Zeitenläufe. Text wie Darstellung stehen in der klassisch satirisch-analytischen Tradition eines Nestroy, eines Karl Kraus und, dies vor allem, eines Ödön von Horváth. In der Demaskierung, in der Entstellung seiner Figur zur Kenntlichkeit gelang Qualtinger eine einzigartige literarische Bestandsaufnahme der „Banalität des Bösen“.

Die Fernseherstausstrahlung vom 15. November 1961 löste einen hysterischen Proteststurm sondergleichen aus, wochenlang reagierte die Republik mit empörter Fassungslosigkeit auf diese – ihre – Geschichte. Qualtinger, so der Bildhauer Alfred Hrdlicka, habe den Leuten eben einen Spiegel vorgehalten: „Sie haben sich darin gesehen, aber sich nicht erkannt.“ Ein epochaler Theatererfolg sollte der Herr Karl dennoch werden, auf Einladung österreichischer Emigranten gastierte Qualtinger schließlich für acht ausverkaufte Vorstellungen im Barbizon Plaza Theater am Broadway. Bis heute ist der Text Kult und ein schier unerschöpfliches Zitatenreservoir.

– Wolfgang Maderthaner –

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"Der Herr Karl"

Dokument 96

Originalmanuskript zu „Der Herr Karl“ von Carl Merz und Helmut Qualtinger. 1961, Wien.

"... und ich finde, der Herr Karl verdient nur Fans“

- Teddy Podgorski -
Journalist, Schauspieler und Autor