Die evasive Kaiserin

Dokument 54

„Sisi“, Elisabeth von Österreich (1837–1898), entzieht sich sukzessive dem Hofstaat, ihrem Ehemann, dem flüchtigen Moment der Kameralinse. Eine hochintelligente, komplexe Persönlichkeit entrückt in selbstgewählte Rituale von Askese und Unrast.

Die Begründung für die Benennung des auf Korfu errichteten, abgeschotteten klassizistischen Schlosses nach ihrer bevorzugten Heldengestalt aus der antiken Mythologie („Achilleon“) geriet ihr, wohl unbewusst, zur eindringlichen Selbstcharakterisierung: Von der Personifikation der Schönheit war hier die Rede, von „Schnellfüßigkeit“, Stärke und Trotz, von der Verachtung „aller Könige“ und Traditionen ebenso wie der „Menschenmassen“, von der „Heilighaltung“ des eigenen Willens, der eigenen Träume, der Trauer. Auch einem weiteren ihrer Heroen zollte sie hier Tribut: ihrem literarischen „Meister“, dem herausragenden Poeten, demokratischen Revolutionär und humanistischen Sozialisten Heinrich Heine, dem sie in einem kleinen Tempel im Garten des Achilleons ein Denkmal errichten ließ und mit dem sie, wie auch mit Ludwig II. von Bayern, in spiritistischem Kontakt zu stehen vermeinte. Elisabeth – Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn –, extravagant, kapriziös, hochintelligent und hochneurotisch, ist in der Tat eine überaus komplexe Persönlichkeit voller Widersprüche und Paradoxien, eine Figur, die sich den üblichen Kategorisierungen schlicht entzieht. Nichts an ihr war Konvention, nichts Alltäglichkeit; eine atemberaubende Schönheit, umgeben von der Aura des Geheimnisvollen, verzweifelt ob der Leere und Perspektivlosigkeit ihrer Ehe, Protokoll und Hof unversöhnlich abgeneigt, ständig auf Reisen und zunehmend menschenscheu, wird ihr Leben sukzessive zu einer obsessiven, manisch anmutenden Flucht vor dem Selbst, vor der „ständigen Unruhe ihrer Seele“.

16-jährig, am 24. April 1854, heiratet Sisi – Tochter eines eigenwilligen, literarisch und journalistisch begabten (anti-)aristokratischen Bohemiens aus einer Wittelsbacher Nebenlinie – ihren Cousin Franz Joseph. Mit drei Geburten innerhalb von vier Jahren erfüllt sie Pflicht und Erwartung. Vom ersten Tag ihrer Ehe an aber sucht sie Zuflucht in der Krankheit: Husten- und Fieberanfälle, tagelange, nicht enden wollende Weinkrämpfe, Schlaflosigkeit, „Bleichsucht“, chronische „Überreizung“ der Nerven. Ein Krankheitsbild, dessen Symptome das 19. Jahrhundert wohl der „weiblichen Hysterie“ zugeordnet hat – jener, wie wir heute wissen, Krankheit der Irrationalität, der Unberechenbarkeit, in der sich in erster Linie die Auflehnung gegen eine im Sinne der Fortpflanzungsfunktion reduzierte Sexualität ausdrückt. In enger Verbindung dazu ist die Anorexie zu sehen. Immer wieder wird von der „tiefsten Abscheu“ der Kaiserin vor „jeder Nahrung“ berichtet, mit einer Willensstärke sondergleichen hat sie ihre Hungerkuren bis in ihr fortgeschrittenes Alter durchgezogen; in den 1890er-Jahren diagnostiziert der Arzt Viktor Eisenmenger bei der „sonst gesunden Frau“ ein Hungerödem. Es ist ein Kampf auf strikt individueller Ebene, die Reaktion des Ich auf eine bestimmte soziokulturelle Dynamik, die dieses Ich verleugnet und die von ihm seinerseits verweigert wird – eine ausschließlich auf die eigene Person fokussierte Form der Resistenz und doch in besonderer Weise geeignet, die Dynamik selbst infrage zu stellen.

Den Zumutungen seitens des Hofes und vor allem auch ihrer Schwiegermutter/Tante begegnet Elisabeth mit den Mitteln des hinhaltenden, passiven Widerstands; ihrer Ehe entzieht sie sich, wann immer sie kann, durch Reisen und Auslandsaufenthalte (Madeira, Korfu); Repräsentationspflichten nimmt sie de facto nicht oder nur äußerst widerstrebend wahr. Zugleich kann ihr Aufbegehren aber auch weitaus subtilere Facetten annehmen. Sie, die als ausgesprochen magyarophil gilt und sich mit einer an Fanatismus grenzenden Energie für den Ausgleich mit Ungarn einsetzen wird, erlernt – obwohl allgemein als sprachunbegabt eingeschätzt – das Ungarische binnen kürzester Zeit und spricht es akzentfrei; ihre spät geborene Tochter Marie Valerie erzieht sie in dieser Sprache, in der ab einem bestimmten Zeitpunkt auch die Korrespondenz mit Franz Joseph gehalten ist. So sehr sie Zeremoniell und höfische Etikette verachtet, so sehr fasziniert sie das Andere, Gegenläufige. Sie interessiert sich intensiv für „Irrenanstalten“ und die neuesten Therapieansätze mittels Hypnose oder versammelt – wie der Leibkammerdiener des Kaisers entsetzt berichtet – in Schloss Gödöllö (einem Geschenk der ungarischen Magnaten) Roma-Musikanten, „lichtscheues Pack“, schmutzstarrend und in Fetzen gehüllt. Hier nimmt sie auch Reitunterricht bei den berühmten Kunstreiterinnen des Zirkus Renz, Emilie Loiset und Elise Petzold.

Eine auf den ersten Blick eher marginale Episode aus dem Jahr 1882 scheint geeignet, das überaus komplizierte Seelenleben der Kaiserin beispielhaft zu erschließen. Auf wiederholtes Drängen der Generalität hatte sie sich bereit erklärt, dieses eine, einzige Mal bei der Kaiserparade auf der Schmelz präsent zu sein – jener überwältigenden Heerschau der multinationalen habsburgischen Streitkräfte, die einmal jährlich den inneren Zusammenhalt wie die ungebrochene militärische Stärke des Vielvölkerstaates suggerierte und der Franz Joseph in symbolischer wie realpolitischer Hinsicht höchste Priorität zumaß [Der Mann ohne Eigenschaften]. Neben Kaiser, Kronprinz und Kronprinzessin nahm sie, die überzeugte Antimilitaristin, den stundenlangen Vorbeimarsch ab – schön, unnahbar, entrückt, wie aus einem Guss auf ihrem Lieblingspferd, dem sie den Namen Nihilist gegeben hatte.

Elisabeths neurotisch aufgeladene Widersetzlichkeit, ihr beinahe ausschließlich auf sich selbst bezogenes Aufbegehren nimmt unterschiedliche Formen an. Es äußert sich in einem zwanghaften Aktionismus ebenso wie in einem exzessiv betriebenen Körper- und Schönheitskult, der durchaus quasireligiöse Dimensionen annehmen konnte. Die Vollkommenheit ihres Körpers sei Elisabeths „alles beherrschende, leidenschaftliche Liebe“ gewesen, ihre Schönheit habe sie angebetet „wie ein Heide seinen Götzen“ (so Marie Larisch, eine Nichte der Kaiserin). Zugleich sind damit klare Grenzen definiert: Sie liebt es, von Männern bis zur Anbetung verehrt zu werden, verweigert letztlich aber die Sexualität. Das gilt offenbar auch für ihre beiden „großen Affären“ mit Gyula Graf Andrássy und ihrem schottischen Reittrainer Bay Middleton.

Von ihrem 38. bis zu ihrem 45. Lebensjahr verbringt sie jeden Tag im Sattel, gelegentlich bis zu acht Stunden lang: Sie führt das Leben einer Spitzensportlerin, umgibt sich mit einer Clique österreichisch-ungarischer Kavaliere (darunter nicht zuletzt Elemér Graf Batthyány, Sohn jenes aufständischen Ministerpräsidenten, den Franz Joseph 1849 hatte hinrichten lassen, [Kakanien] und misst sich in England wie in Irland bei wilden Parforcejagden mit der männlichen europäischen Reiterelite. Mit dem Auftreten erster Altersbeschwerden kompensiert sie ihre Bewegungsmanie und unternimmt, täglich und wetterunabhängig, stundenlange Gewaltmärsche, begleitet von (völlig überforderten) Hofdamen oder jungen griechischen Vorlesern, die ihr die Odyssee in Originalsprache vorzutragen hatten.

Die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens durchrast sie förmlich: Ein „weiblicher Fliegender Holländer“, schreibt die Kaiserin, werde sie sein, Ahasver im Vergleich zu ihr ein „Stubenhocker“. Seit der Tragödie um ihren Sohn Rudolf kleidet sie sich nur noch in Schwarz, verdeckt ihr alterndes Gesicht mit den ausnehmend schlechten Zähnen hinter Fächer und Schirm, lässt keinerlei Fotos oder Porträts mehr zu. In der europäischen Presse werden zunehmend Stimmen laut, die schlicht von Irrsinn oder von einem lange angelegten, hochgradigen Nervenleiden sprechen. Am 10. September 1898 ist sie am Quai Mont Blanc in Genf unterwegs, als sie einem mit einer geschliffenen Feile ausgeführten Attentat des sozial verwahrlosten Anarchisten Luigi Lucheni zum Opfer fällt. Zehn Minuten geht Elisabeth noch weiter, dann bricht sie zusammen. Selbstverständlich wurde ihrem Wunsch, „am Meer, am liebsten in Korfu“ ihre letzte Ruhestätte zu finden, nicht entsprochen.

– Wolfgang Maderthaner –

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Obduktionsbericht

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Nach dem gewaltsamen Tod von Kaiserin Elisabeth wurden am 11. September 1898 in Genf Leichenschau und Autopsie durchgeführt.

Kaiserin Elisabeth

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Selbstbild und Bildnis: Die Inszenierung der Kaiserin als überzeitliche Schönheit. Undatiertes Foto-Portrait von Carl Pietzner, Hof- u. Kammer-Photograph.

Kaiserin Elisabeth und Kaiser Franz Joseph

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Das Paar auf Kur in Bad Kissingen, 1898.