Natio Hungarica

Dokument 22

Der ungarische Adel bleibt wachsam und wehrhaft gegenüber absolutistischen Herrschaftsansprüchen Habsburgs. Dieses magyarische Selbstbewusstsein findet Ausdruck in Konflikten nach „unten“ (gerichtet gegen ethnische Minderheiten) und „oben“ (gegen die Zentralgewalt). Ein idealer Nährboden für die spätere Saat des Nationalismus im 19. Jahrhundert und seiner Frucht in Form der Doppelmonarchie.

Zugleich mit Böhmen war Ungarn an die Habsburger gefallen, doch hätte beider national- kulturelle wie politische Entwicklung unterschiedlicher nicht verlaufen können. Ungarn musste in beinahe zwei Jahrhunderte währenden kriegerischen Auseinandersetzungen erst dem osmanischen Herrschafts- und Einflussbereich entrissen werden. Und im Gegensatz zu Böhmen, wo – mit der Vernichtung des alteingesessenen Adels und der Entmachtung der Stände – Verwaltung und Gesetzgebung in die Hände des Staates und seiner Bürokratie übergegangen waren [Bílá Hora], hatte sich hier eine eingesessene Grundherrenklasse erhalten. Man berief sich auf die nationale Überlieferung und das nationale Recht und leitete aus der auf den Reichstagen gepflogenen politischen Praxis und, mehr noch, aus der alltäglichen Verwaltungspraxis der Komitate eine Verfassung ab, die aus einer mystifizierten Vergangenheit herrührte und dem magyarischen Adel alle Macht zuerkannte. „Magyar“ und „Edelmann“ waren de facto synonyme Begriffe, die die ausschließliche Zugehörigkeit zur Natio Hungarica definierten. Die ungarische Gentry umfasste demnach fünf bis sieben Prozent der Gesamtbevölkerung, und ihre Kernschicht – die bene possessionati – garantierte sowohl den hohen politischen und sozialen Zusammenhalt des Grundbesitzes als auch dessen weitgehende Resistenz gegenüber jedweder zentralstaatlichen Einflussnahme. Die feudale Konstitution sah explizit ein entsprechendes jus resistendi als Legitimation von Adelsaufständen vor.

Eine solcherart ideologisch begründete Adelsnation dominiert und unterdrückt die ethnischen Minderheiten des Landes (Rumänen, Slowaken, Serben, Ruthenen) ebenso wie sie einen permanenten Kampf gegen die absolute Staatsgewalt, also gegen Wien, führt – eine von beiden Seiten gleichermaßen rücksichtslos wie unablässig betriebene Konfrontation.

Neben einer seit der Niederwerfung des großen Bauernaufstands von 1514/15 * faktisch unbegrenzten Ausbeutung der unfreien (und nicht der Nation zugerechneten) Landbevölkerung betrachteten die Stände das Privileg ihrer eigenen Steuerfreiheit als ureigenstes, unantastbares nationales Recht. An beiden Punkten wird der aufgeklärte habsburgische Zentralismus folgerichtig ansetzen, doch bleibt Ungarn das schier unüberwindbare Hindernis für die Errichtung eines dynastischen Einheitsstaates. Seit dem mit den Osmanen am 26. Jänner 1699 in Karlowitz für die Dauer von 20 Jahren geschlossenen Friedensvertrag waren Ungarn und Siebenbürgen (mit Ausnahme des Banats von Temesvár) definitiv in habsburgischen Besitz übergegangen. Doch Ungarn ist lediglich bereit, den Habsburgern eine als „Personalunion“ definierte, an Wahlen gebundene und jederzeit widerrufbare Herrschaftsgewalt zuzugestehen.

Immer wieder nimmt der magyarische Partikularismus die Form militärischer Aufstände an: im partiellen, kurzfristigen, oft flüchtigen Bündnis mit osmanischen Truppen und/ oder ambitiösen siebenbürgischen Herrschern. So etwa der Hajduckenaufstand unter dem calvinistischen Magnaten István Bocskay, der sich 1604 gegen fortgesetzte religiöse Unterdrückung und bürokratische Zentralisierungsversuche richtete und 1619/20 unter Gábor Bethlen seine Fortsetzung fand. In den späten 1670er-Jahren erheben sich die Kuruzzen unter Imre Thököly gegen einen Verfassungscoup Leopolds I. [Die Rettung des Abendlandes]. Im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts schließlich kommt es (ab 1703) zur größten und vorläufig letzten Rebellion unter dem zu seiner Zeit vermögendsten ungarischen Adeligen, Ferenc Rákóczi, der es verstand, einen lokalen Bauernaufstand im Nordosten zu instrumentalisieren und mit einer „nationalen“ Dimension zu unterlegen; die Erhebung, in deren Verlauf aufständische Reiterverbände bis vor Wien vordrangen, fand 1711 im Frieden von Szatmár, mit dem die österreichische Kontrolle über ganz Ungarn und Siebenbürgen hergestellt wurde, ihr Ende.

Bis 1687 war die türkische Präsenz in Ungarn weitgehend beendet, 1690/91 Transsylvanien erobert worden; die vom Wiener Hofkriegsrat eingerichtete und kontrollierte Militärgrenze erstreckte sich nunmehr von der Adria bis zu den Karpaten. Die in Preßburg tagende Versammlung der magyarischen Stände musste die Habsburger als erbliche Monarchen akzeptieren und das jus resistendi außer Kraft setzen. Und doch wurden die traditionellen Privilegien der magyarischen Gentry ihrer Substanz nach, auch und vor allem was die Verwaltung und Ausbeutung des Landes selbst betrifft, nicht angetastet. Wohl war die sukzessive Rekatholisierung des vordem zum Calvinismus konvertierten magyarischen Grundbesitzes – ohne die eine weitere Aufrechterhaltung der habsburgischen Oberhoheit wohl nicht denkbar gewesen wäre – durchaus vorangekommen. Doch der Preis war eine genaue Beachtung der traditionellen Privilegien der ungarischen „Nation“. Ein von der Gentry getragener, expliziter Dezentralismus – eingebettet in herkömmliche, mittelalterliche Gesetze und Institutionen – erwies sich als überaus beharrlich und jeglicher zentralstaatlichen Uniformität gegenüber resistent und hinterließ ein mit eigensinnigen Besonderheiten durchsetztes Staatswesen.

Der kontinuierliche Ständekampf ließ somit im partikularistischen magyarischen Adel eine politische Ideologie heranreifen, deren Intention der Erhalt der Souveränität der „Nation“ gegenüber den Ansprüchen einer absolutistischen Staatsgewalt war. Doch wurde diese Ideologie im Laufe der Jahrzehnte modifiziert und differenziert, der unbedingte Wille zur nationalen Freiheit wird bis Mitte des 19. Jahrhunderts von den großen Idealen der europäischen bürgerlichen Revolution durchdrungen: Die Stände entwickeln sich ansatzweise in Richtung eines modernen Parlaments, das Prinzip ihrer althergebrachten Vorrechte wird allmählich von jenem der bürgerlichen Rechtsgleichheit abgelöst. Und wenn die Jahre 1848/49 gleichsam ein wie auch immer kurzlebiger Vorbote nationaler Souveränität und Selbstbestimmung sind, so mündet die jahrhundertelange Auseinandersetzung zwischen Staat und Natio Hungarica schließlich im Kompromiss des „Ausgleichs“ von 1867.

– Wolfgang Maderthaner –


*Der große Kuruzzenaufstand von 1514 unter dem aus Siebenbürgen stammenden, in den Türkenkriegen hervorgetretenen Reiterhauptmann György Dózsa ist Teil jener gewaltigen Rebellion der zentraleuropäischen Bauernschaft, welche die Feudalgesellschaft das gesamte 16. Jahrhundert hindurch in ihren Grundfesten erschütterte. Wie überall richtete sich die Auflehnung gegen den fortschreitenden Entzug gemeinwirtschaftlich genutzten Landes und die stets drückender werdenden Lasten der Fron und des Robots. Dózsa war ursprünglich an der Spitze eines aus ca. 100.000 Kuruzzen gebildeten Kreuzzugheeres gegen die Türken gestanden, doch der Feldzug schlug um in eine soziale Revolte, als deren intellektuelles Haupt Pfarrer Lörincz Mészáros hervortrat. Das Bauernheer unterlag schließlich im Sommer 1514 bei Temesvár loyalen Truppen unter Jan Zápolya. „Bauernkönig“ Dózsa wurde gefoltert, gevierteilt und in Ungarns Städten zur Schau gestellt.

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Karte der k.k. Militärgrenze

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1800. Die vom Wiener Hofkriegsrat organisierte und kontrollierte Militärgrenze gegen das Osmanische Reich erstreckte sich zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung über 50.000 Quadratkilometer von der Adria bis zu den Karpathen. Schritt für Schritt wurde sie – nachdem bis 1690/91 die türkische Präsenz in Ungarn weitgehend beendet und Transsylvanien erobert worden war – mit freien, den Grundherren nicht verpflichteten Wehrbauern besiedelt, sowie mit Selbstverwaltung und eigener Gerichtsbarkeit ausgestattet.

Frieden von Karlowitz

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22. Februar – 2. März 1699, Konstantinopel. Ratifikation des Friedens von Karlowitz durch Sultan Mustafa II. Der Friedensvertrag beendete den mit der Zweiten Türkenbelagerung Wiens (1683) begonnenen Krieg der kaiserlichen Armee und ihrer Verbündeten gegen das Osmanische Reich.

Friede von Karlowitz

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Zeitgenössische deutsche Übersetzung des Friedens von Karlowitz