Die Tagebücher des letzten Habsburgers

Dokument 25

„Gott sey mei[n] laydt klagt“ – Kaiser Karl VI. (1685–1740) gilt als scheu, unnahbar, dem Spanischen Hofzeremoniell verhaftet – umso bemerkenswerter seine Offenheit in Tagebüchern.

Karl VI. (1685–1740) wurde 1711 in Frankfurt zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt und trat damit die Nachfolge seines am 17. April verstorbenen Bruders Joseph an. Diese Krönung erfolgte unerwartet, da der Vater Leopold I. den jüngeren Sohn Erzherzog Karl eigentlich für die Nachfolge in Spanien vorgesehen hatte [Die pragmatische Sanktion].

Der Tod des letzten spanischen Habsburgers Karl II. im November 1700 war der Auftakt zum Beginn des Spanischen Erbfolgekriegs, da Karl II. nicht die österreichischen Verwandten, sondern den Enkel des französischen Königs Ludwig XIV. als Erben eingesetzt hatte. 1703 wurden die Erbrechte in Wien auf Erzherzog Karl übertragen, der nun als Karl III. seine Ansprüche auf der iberischen Halbinsel vertrat, wo er 1704 eintraf. Mittlerweile hatte sich jedoch ein Großteil der spanischen Länder dem Bourbonen Philipp von Anjou unterworfen. Im Spanischen Erbfolgekrieg ging es aber nicht allein um die Länder der iberischen Halbinsel, sondern um die Gebiete der spanischen Krone in ganz Europa und in Übersee (z.B. Neapel, Sizilien, Sardinien, Spanische Niederlande, dem heutigen Belgien). Auf der Seite der Habsburger kämpften die Seemächte, wobei insbesondere England an einem Gleichgewicht der Kräfte zwischen der Dynastie der Habsburger und der Bourbonen gelegen war. Die Vereinigung dieser Länder durch die Habsburger wie zu Zeiten Karls V. oder ein Zusammenschluss zwischen Paris und Madrid hätte der jeweiligen Dynastie eine Übermacht am europäischen Kontinent verschafft. Ein wichtiger Stützpunkt des habsburgischen Thronkandidaten Karl III. wurde ab 1705 Barcelona und damit Katalonien.

Inmitten der Kriegswirren, die sich zu einem regelrechten „Weltkrieg“ ausweiteten, begann Erzherzog Karl am 1. Jänner 1707 seine Tagebuchaufzeichnungen bzw. sind diese ab diesem Zeitpunkt erhalten. Dabei hatte er wohl seinen 1705 verstorbenen Vater Leopold I. als Vorbild vor Augen, der selbst in Schreibkalendern tageweise Vermerke notierte. Die Hefte sind unscheinbar, besitzen keinen festen oder gar Ledereinband und weisen das kleine Quartformat der gedruckten Kalender des Vaters auf. Erzherzog Karl verwendete seit Beginn seiner Notizen unbeschriebene Blätter und griff somit nicht auf die üblichen gedruckten Kalenderhefte zurück, die neben den Tabellen zu den Monatstagen und ihren (astrologischen) Voraussagen freie Blätter für persönliche Notizen enthielten. Die Einträge erfolgten tageweise sowie durchwegs in deutscher Sprache. Dabei fügte der spätere Karl VI. die einzelnen Worte ohne Satzstruktur und fast ohne Satzzeichen aneinander, die Tätigkeiten des Tages stehen also unkommentiert nebeneinander. Neben Hinweisen auf Ratssitzungen fallen die Namen von dem Kaiser nahestehenden Personen, aber auch Bemerkungen über den üblichen Tagesablauf, etwa über die Aufstehzeit, Besuche der Messe, Essenszeiten, Jagden oder Faschingsfeste mit Verkleidung und Tanz.

Grundsätzlich gab es kaum Veränderungen im Aufzeichnungsschema, der nunmehrige Kaiser verwendete in seinem letzten Lebensjahrzehnt jedoch zunehmend Zahlen zur Verschlüsselung seiner Einträge. Als Beispiel sei die Notiz zum 3. Juni 1722 angeführt: „Mitt[woch] 3ten, 5 auf; mess[en]; regen, nit baiz, 8 burst; essen; nahmit[tag] windt, ich nit wohl; depe[sc]h[en]; rasten; 3 ½ vesper, 2 stundt; unterschr[ieben], neg[otia]; sonst nichts, ord[inari].“ Das schlechte Wetter [Regen, Wind] verhinderte also einen Jagdausfl ug Kaiser Karls VI., der sich zudem nicht wohlfühlte, weshalb ihn laut seinen Notizen am nächsten Tag der kaiserliche Leibarzt Garelli untersuchte („Garel[li] w[e]gen mir, nit wohl“). Auch die lange Dauer der Vesper am Nachmittag wird vermerkt.

Aufgrund der Kürze der Einträge und der zahlreichen Abkürzungen bei fehlender Satzstruktur sind die Inhalte der Notizen oft nur schwer oder kaum erschließbar. Trotzdem erlauben sie unmittelbare Einblicke in die Strukturen des barocken Wiener Hofs: Etwa wird anhand der Nennungen der Namen der kaiserlichen Ratgeber deutlich, wer zum Kaiser Zugang hatte und so politische Entscheidungen zu beeinflussen suchte. Vor allem von Interesse sind aber Einträge, die uns die Persönlichkeit Karls VI. näherbringen, der sich in der akribischen Auflistung seines Tagesablaufes als arbeitsamer und frommer Monarch präsentierte. So vermerkt er, wenn er „vill Arbeit“ hatte, „fleißig“ oder auch „faul“ gewesen war. Insbesondere die Sommerhitze veranlasste ihn zum Rasten. Bei Besuchen seiner Kinder oder anlässlich von Festen vermerkte er, dass es „lustig“ oder die Töchter „brav“ gewesen wären. 1724 verwies er etwa auf eine gelungene Tanz- und Gesangseinlage der siebenjährigen Maria Theresia im Rahmen einer Oper. Die Sorge um die Familie wird bei Krankheiten der Kaiserin Elisabeth Christine oder der Töchter greifbar, wobei man bei diesen insbesondere die Blattern fürchtete. Mehrfach verwies er auf seinen „Herzensfreund“ Althann, den er beinahe täglich traf. Neben Gesprächen zu politischen Themen vermerkte er etwa die Spielrunden mit diesem in Laxenburg, wobei er regelrechte Gewinn- und Verlustlisten führte. Aufgrund der Nähe zu Althann traf ihn dessen Tod am 16. März 1722 besonders hart. Auch fühlte sich der Kaiser in der Folge nunmehr „allein“, war „betrübt“, „melancholisch“ oder hatte „üblen Humor“. Erst 1723 finden sich anlässlich der Reise nach Prag wieder Hinweise auf Spielrunden, auf die er unmittelbar nach dem Tod seines Vertrauten bewusst verzichtet hatte. Gegen Ende seines Lebens und damit der Tagebücher nehmen Sorgen um die Nachfolge in der Habsburgermonarchie, das eigene Seelenheil sowie das der Verstorbenen zunehmend Raum ein.

Karl VI., der letzte männliche Habsburger, tritt uns in diesen kargen Notizen also durchaus sehr persönlich entgegen. Die Aufzeichnungen des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches und Souveräns der Länder der Habsburgermonarchie, die unter ihm ihre größte Ausdehnung erreichte, sind somit eine einzigartige Quelle für die politischen und persönlichen Entwicklungen am Wiener Hof.

– Stefan Seitschek –

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Tagebücher von Kaiser Karl VI

Dokument 25

Ein Dokument von außergewöhnlicher Seltenheit und Bedeutung: Karl VI., als Kaiser höchster Lehensherr und Regent von Gottes Willen und Gnaden, reflektiert in seinen Tagebüchern über seine Existenz als Individuum.