Insel der Seligen

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Die Reformen der Ära des „Sonnenkönigs“ Bundeskanzler Bruno Kreisky umfassen ein Bündel von Maßnahmen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Bildung, Frauenpolitik und Justizreform. Der Rückblick auf die 1970er-Jahre zeigt einen modernen Wohlfahrtsstaat, der umsichtig einen Kreislauf von Vollbeschäftigung, Wachstum und sozialem Konsens steuert.

Rückblickend betrachtet erscheinen die dreizehn Jahre der Alleinregierung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky (1970–1983) als stabile und ruhige Periode der wirtschaftlichen Prosperität und des sozialen Konsenses. Die 1970er-Jahre entwickelten sich – erstmals in der neueren Geschichte des Landes – zu einem materiell wohl abgesicherten Jahrzehnt jenseits existenzieller Notlagen; ein Jahrzehnt, in dem sich der Aufstieg der Konsumgesellschaft, der schon in den Sechzigern eingesetzt hatte, beschleunigt fortsetzt. Die Verbreiterung und tendenzielle Verallgemeinerung des Mittelstandes ist denn auch das herausragende soziale Leitmotiv der Ära des „Sonnenkönigs“ und Medienkanzlers Kreisky. Die ganze Ära ist sowohl von einer nachholenden Modernisierung in einem konservativen und in wirtschaftlicher Hinsicht Austerity-geplagten Land als auch von der bewussten Hinwendung zu einem sozialpartnerschaftlich organisierten Wohlfahrtsstaat geprägt. Die Mobilisierung der unausgeschöpften Modernisierungspotenziale der österreichischen Wirtschaft korreliert mit einem spürbaren gesellschaftspolitischen Reformschub und erhält eben von dort ihre politisch-kulturelle Legitimation. Die damit bewirkte Engführung von Wirtschaft, Politik und Kultur verdichtet sich zu einer Konstellation, die für über ein Jahrzehnt als „österreichischer Weg“ auch und gerade im internationalen Kontext besondere Beachtung findet. Die Regierungszeit Kreiskys stellt sich als das goldene Nachkriegszeitalter dar, und niemand Geringerer als Papst Paul VI. spricht von Österreich als „Insel der Seligen“ – eine „Sakralisierung“ gewissermaßen der österreichischen Neutralitätspolitik und Sozialpartnerschaft. All dies offerierte für die Mehrheit der Bevölkerung das Angebot einer Identifikation mit dem „Erfolgsmodell Österreich“ – eine völlig neue Qualität in der Geschichte der Republik.

Selbst der erste massive wirtschaftliche Einbruch der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, ausgelöst durch die Erdölkrise von 1973/74, geht an Österreich relativ folgenlos vorüber, da die Regierung mittels einer beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik von Investitionen und steuerlichen Begünstigungen der wirtschaftlichen Rezession und der drohenden Erhöhung der Arbeitslosigkeit erfolgreich gegensteuert. Die traumatischen Erfahrungen der globalen Finanz- und Spekulationskrise der 1930er-Jahre, da strukturelle Massenarbeitslosigkeit in Faschismus und Krieg umschlug, bestimmten nachhaltig Kreiskys Politikverständnis – Vollbeschäftigung ist denn auch das zentrale wirtschaftspolitische Leitmotiv seiner Regierungszeit. Über das ganze Jahrzehnt hinweg ist die Arbeitslosenrate ebenso wie die Inflationsrate weit unter dem Mittelwert der Industrieländer und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Arbeitnehmer steigt spürbar an, sodass das Konsumniveau dem der westlichen Industrienationen, vor allem aber dem Vorbild Deutschland, angeglichen wird. Österreich war nun endgültig aus dem Schatten der Kriegsfolgen und der damit einhergehenden Mangel- und Sparwirtschaft herausgetreten. Mittels eines erfolgreichen Modells antizyklischer Konjunkturpolitik (Austro-Keynesianismus) und sozialpolitischer Maßnahmen, die die vorhergehende ÖVP-Alleinregierung auf Grund einer Mischung von strikter Fiskalpolitik und katholischem Wertekonservatismus verweigert hatte, sollten die letzten großen sozialen Ungleichheiten bei Bildung, Gesundheit und Einkommen sowie die Benachteiligung der Frauen beseitigt werden. Christian Brodas liberale Rechtsreform erwies sich als Jahrhundertwerk, die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 40 Stunden und die Urlaubsverlängerung (um eine vierte Woche) sowie eine Reihe von Verbesserungen in den Bereichen Arbeitslosen-, Pensions-, Unfall- und Krankenversicherung schufen – obgleich sie substanziell an der ungleichen Verteilung von Einkommen und Besitz wenig änderten – doch eine kollektive Wahrnehmung davon, in einer Gesellschaft zu leben, in der für die „Kleinen“ und sozial Schwachen nunmehr bessere Lebenschancen gegeben waren. Zudem übersetzte sich die Reformdynamik in das Kulturelle und es gelang dem Bundeskanzler, große Teile der Intellektuellen und Kulturschaffenden für sein gesellschaftspolitisches Projekt zu gewinnen („ein Stück des Weges gemeinsam“).

Bruno Kreisky verkörperte in seiner Person eine außergewöhnliche und eigentümliche Mischung von Geschichte, Gedächtnis und Gegenwartspolitik. Da er seine Wurzeln in der Monarchie, dem jüdischen Großbürgertum der Jahrhundertwende und im Roten Wien hatte und zugleich im Wege der Erfahrungen von Emigration, schwedischem Exil und umfangreicher außenpolitischer Expertise agierte, konnte er einen Sinn für machbare Zukunft in einem Land entwickeln, das durch historische Amnesien und selbstbezügliche Horizontbegrenzung gekennzeichnet war. Die Ära Kreisky bedeutet so gesehen nicht nur die Aufgabe zentraler austromarxistischer Positionen durch die Sozialdemokratie, sondern ist vor allem auch durch ein im internationalen Vergleich herausragendes Wirtschaftsmodell charakterisiert, das Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialen Konsens gleichermaßen zu garantieren vermochte. Die Nationalratswahl 1979 erbrachte mit 51 Prozent der gültigen Wählerstimmen einen historischen Triumph und die Erfüllung einer lange davor formulierten sozialdemokratischen Utopie. Vier Jahre später können, bei einem Verlust von fünf Mandaten, nur mehr 47,6 Prozent erreicht werden, vornehmlich aufgrund einer erneuten globalen Rezession sowie parteiinterner Fraktionskämpfe (Affäre Androsch). Bruno Kreisky hat dies als schwere persönliche Niederlage empfunden und mit seinem Rücktritt die entsprechenden Konsequenzen gezogen.

– Wolfgang Maderthaner –

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mit ihren Familien im schwedischen Exil. 1943.

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Die „Menschen in den Betrieben draußen“. Der Bundeskanzler zu Besuch bei den Linzer Stickstoffwerken. 1973.

"... das Durchfluten aller Bereiche der Gesellschaft mit Demokratie ...“

- Wolfgang Petritsch -
Österreichischer Diplomat, Politiker und von 1977 bis 1983 Sekretär von Bundeskanzler Bruno Kreisky