Die Annexion Bosniens

Dokument 57

1908 rückt erstmals das zunehmend explosive Gemisch „jugoslawisch“- nationalistischer und machtpolitischer Interessen der europäischen Großmächte in den Blick: Mit dem Herrschaftsanspruch Habsburgs in Bosnien setzt sich eine rückblickend fatale Kettenreaktion in Bewegung.

In der auf den mediterranen Raum konzentrierten revolutionären Welle der frühen 1820er-Jahre kam nicht zuletzt auch eine seit Langem latente Krise des türkischen Lehens- staates zum Ausdruck. Der nahezu mythisch überhöhte griechische Freiheitskampf wurde zu einem zentralen Topos der jungen europäischen Romantik, und der Balkan galt fortan als jenes hochexplosive Pulverfass, als das er sich im Vorfeld und Verlauf des Ersten Weltkriegs dann tatsächlich erweisen sollte. Mit der Gründung des napoleonischen Illyrien, mit dem Aufstand der Serben gegen die türkische und der Kroaten gegen die magyarische Herrschaft setzt ein Prozess ein, der im ausgehenden 19. Jahrhundert in eine umfassende Nationalisierung der Massen mündet und dessen Ziel die überwindung der (spät-)feudalen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung sowie der nationalen Zersplitterung ist.

Der Balkan entwickelte sich zu einem hochkomplexen Krisengebiet erster Rangordnung. Als im Zuge des Russisch-Osmanischen Kriegs von 1877/78 zaristische Truppen bis Konstantinopel vorstießen und der Türkei im Frieden von San Stefano überaus harte Friedensbedingungen diktiert wurden, nahm die Regierung in Wien Kriegskredite auf und mobilisierte ihre Garnisonen an der russischen Grenze. Das komplexe Gleichgewicht der wechselseitigen Neutralisierung der europäischen Großmächte, wie sie die am Wiener Kongress geschaffene Friedensordnung vorgesehen hatte [Die evasive Kaiserin], schien aus den Fugen geraten, der große europäische Krieg mit einem Schlag eine realistische Option.

Waren die serbischen Fürsten nach der Niederlage am Amselfeld (1389) zu Vasallen der türkischen Großherren und die serbischen Länder nach der Katastrophe von Varna (1444) türkische Provinzen geworden, so hatte sich in Bosnien ein Teil des nationalen Adels behauptet – allerdings um den Preis der Konversion zum Islam und eines Aufgehens in die herrschende osmanische Kultur. Auf eben diesen muslimischen Adel stützte sich nun die neu installierte österreichisch-ungarische Administration, während sie zugleich ihre deutsche, magyarische, polnische Beamtenschaft der militärischen Oberhoheit unterstellte. Von dem deutschen Sozialdemokraten und führenden Theoretiker des Revisionismus, Eduard Bernstein, als ein „verdienstvolles Werk kolonialer Kulturpolitik“ charakterisiert, hat die Militärverwaltung Bosniens und der Herzegowina gleichwohl die türkische Agrarverfassung nicht angetastet und die Grundsätze moderner Staatsverwaltung lediglich in Ansätzen verwirklicht (so waren etwa Rechtspflege und Verwaltung auf der untersten Stufe nicht getrennt).

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich staatliche Selbstständigkeit für die Südslawen lediglich in Montenegro und in Serbien verwirklicht. So sah sich die Habsburgermonarchie unter anderem mit einer bedrohlichen sozialen Gärung in Bosnien und der Herzegowina konfrontiert, wo die jungtürkische Revolution begeisterte Resonanz fand und erwogen wurde, das türkische Parlament mit bosnischen Abgeordneten zu beschicken. Vor diesem Hintergrund proklamiert österreich-Ungarn am 5. Oktober 1908 die Annexion Bosniens und erklärt es zu seinem dauernden Besitz. Die Annexion Bosniens sollte eine Geste der Stärke gegenüber den Südslawen, vor allem auch gegenüber Serbien und den großserbischen Ambitionen, sein. Mit ihr wurde ein bislang latenter, für die nationale Einigung der Südslawen jedoch überaus signifikanter Gegensatz offenkundig: jener der großserbischen versus der großkroatischen Option. Die Großkroaten, die sich auf das Königtum Kroatien als das älteste bestehende südslawische Gemeinwesen und als sozusagen natürlicher Kristallisationspunkt der südslawischen nationalen Idee beriefen, begrüßten die Annexion enthusiastisch. Der Weg zu einem kroatisch-serbischen Staat, mithin zu einem südslawischen Habsburgerstaat unter Einbeziehung der von Ungarn abgetrennten Gebiete, der im Rahmen eines Trialismus gleichberechtigt neben österreich und Ungarn treten würde, schien vorgezeichnet. Doch der Initiator und vorrangige Betreiber der bosnisch-herzegowinischen Eingliederung, Außenminister Alois Lexa von ährenthal, ignorierte den politischen und ökonomischen Status der „jugoslawischen Nation“, die sich in beiden Reichsteilen und den annektierten Provinzen formierte, zur Gänze; die trialistische Lösung wurde nicht einmal als ein Surrogat eines nationalen Föderalismus im gesamten Donaureich angedacht. Zudem drängte die Kriegspartei am Wiener Hof um Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf während der Annexionskrise auf ein sofortiges Losschlagen und eine „Einverleibung“ Serbiens, sei dieses doch der konstante Herd jener „Aspirationen und Machinationen“, die auf die völlige Loslösung und die staatliche Selbstständigkeit aller Südslawen hinausliefen. Angesichts solch kriegstreiberischer Intentionen verwies der Kaiser, nicht untypisch, auf den Imperativ des historisch Notwendigen: Dieser Krieg werde ohnehin „von selber“ kommen.

Der europäischen Demokratie aber musste die Annexion als ein rein dynastischer Akt ohne politischen, jedenfalls ohne nationalen Inhalt erscheinen; Parallelen und Analogien zum italienischen Freiheitskampf ein halbes Jahrhundert davor taten sich auf, österreich erschien erneut als „reaktionäres Prinzip“. Serbien fand sich in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Habsburgermonarchie; Frankreich und England führten nunmehr seine – die großserbische – Sache. Dazu trat Russland, das nach der verheerenden Niederlage im Krieg mit Japan und den Erschütterungen der Revolution von 1905 einen beschleunigten und durchaus effizienten agrarischen, industriellen und militärischen Reformprozess durchlief. Was immer die eigentlichen Intentionen der serbischen Politik gewesen sein mögen: In ihrer konkreten Praxis wurde aus ihr wenig mehr als ein Werkzeug des Zarismus. Und so verfestigte sich in der Problematik des jugoslawischen Nationalismus jenes Szenario, das – einer fatalen Eigenlogik gemäß – den Weg in den ersten globalen Vernichtungskrieg bereiten sollte: „Unlösbar“, wie Otto Bauer bereits 1909 prognostizieren sollte, „ohne blutigen Weltkrieg und doch nach Lösung schreiend.“

– Wolfgang Maderthaner –

Mehr Weniger

Karte von Österreich-Ungarn

Dokument 57

Karte von Österreich-Ungarn und den nördlichen Balkanländern nach der Annexion von Bosnien-Herzegowina. 1908.

„Proklamation an das bosnisch-herzegowinische Volk“.

Dokument 57

Konzept des kaiserlichen Manifests an die Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina. Der Akt wurde am 5. Oktober expediert (auf Seite 1 ersichtlich) und von Franz Joseph am 7. Oktober in Budapest gezeichnet. 1908.

„Die Vorstellung, dass diese Monarchie einerseits oder andererseits auch Bosnien verloren gehen würde, war einfach nicht vorhanden.“

- Wolfgang Petritsch -
Österreichischer Diplomat, Politiker und zwischen 1999 und 2002 der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina