Saint-Germain

Dokument 69

Mit den Friedensverträgen von Versailles und Saint-Germain wird eine Saat gesät, die zwei Jahrzehnte später furchtbare Frucht tragen wird. Schwindelerregende Reparationsverpflichtungen, das „Anschluss-Verbot“ an Deutschland und Grenzverläufe abseits ethnisch-sprachlicher Gesichtspunkte sind eine schwere Hypothek für den jungen „Staat, den keiner wollte“.

Fragt man heutige Jugendliche in österreich, was sie mit Saint-Germain verbinden, so wird die überwiegende Zahl wohl mit einem prominenten Fußballklub antworten. Fragt man junge Ungarinnen und Ungarn nach Trianon, so kommt, geprägt durch den Geschichtsunterricht und die allgegenwärtige nationale Symbolpolitik, wohl sofort das Trauma des Friedensvertrags zur Sprache.

Beide Länder, österreich und Ungarn, zählten zu den Verlierern am Ende des Ersten Weltkriegs, beide erhielten Verträge überreicht, mit denen man nicht zufrieden sein konnte. österreich wurde der damals erhoffte Anschluss an Deutschland verweigert, und Millionen von deutschsprachigen Menschen fanden sich in den Nachbarstaaten Tschechoslowakei, Italien und dem SHS-Staat wieder. Ungarn wurde radikal verkleinert und sah in allen Nachbarstaaten ungarische Minoritäten. Man grenzte also sprichwörtlich nur an Ungarn.

Für Ungarn war Trianon der Beginn einer dramatischen Geschichte durch das ganze 20. Jahrhundert, in dem, aufbauend auf Trianon, im Bewusstsein der Ungarn ein nationaler Kreuzweg zu beschreiten war. österreich hingegen war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unglücklich darüber, dass der Staat in den Grenzen von Saint-Germain wiederentstehen konnte. Selbst wenn sich dahinter die Lebenslüge vom „ersten Opfer des Nationalsozialismus“ abzeichnet, es relativierte die Einschätzung der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs für österreich nachhaltig.

Der Vertrag von Saint-Germain war Teil der Friedensordnung, die man in Paris schaffen wollte. „A Peace to End All Peace“ titelte David Fromkin im Hinblick auf die Neuordnung des Nahen Ostens, aber auch in Europa lag in den getroffenen Entscheidungen genügend Zündstoff, der den Kontinent destabilisierte.

Bei den Friedensverträgen gab schon das erste Abschlussdokument, der Friedensvertrag mit Deutschland, abgeschlossen in Versailles, den Ton vor. Schon dort wurde das Anschlussverbot für (Deutsch-)österreich fixiert. Und schon in Versailles wurde klargestellt, dass die Verliererstaaten keine Verhandlungspartner waren, sondern Resultate der Beratungen der Sieger in Empfang zu nehmen hatten. Als die österreichische Delegation im Mai 1919 nach Paris reiste, gab es auch für sie keine Verhandlungen und auch keinen wirklichen Handlungsspielraum. Einzig der Gegensatz zwischen Italien und dem SHS-Staat machte kleine Korrekturen an der Süd- und Südostgrenze möglich. österreichs Argumentation, als Staat 1914 gar nicht existiert zu haben und daher nur einer der Nachfolgestaaten der Monarchie, aber keine kriegsführende Macht gewesen zu sein, fand kein Gehör. Man war, gemeinsam mit Ungarn, in der Pflicht, die Verantwortung der Habsburgermonarchie zu schultern.

Am 2. September wurde der österreichischen Delegation der Vertrag übergeben, den Karl Renner acht Tage später unterzeichnete. Der Vertrag enthielt ernüchternde Bestimmungen zu den Grenzziehungen, nur zwei Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung der Monarchie fanden sich innerhalb der Grenzen des neuen Staates wieder. Selbst wenn das Zitat „Der Rest ist österreich“, das dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau zugeschrieben wird, nicht authentisch ist – es entsprach der Realität. In der Frage der Nordgrenze wurde das Recht auf historische, also alte, Kronlandgrenzen über das Recht auf Selbstbestimmung gestellt. So kamen ganz Böhmen, Mähren und Schlesien und sogar einige Gemeinden Niederösterreichs an die Tschechoslowakei, was diesem Staat gut drei Millionen Menschen als deutschsprachige Minderheit bescherte. Südtirol, Welschtirol und das Kärntner Kanaltal fielen an Italien, wobei besonders Südtirol für Jahrzehnte das bilaterale Verhältnis von Italien und österreich belastete. Die Untersteiermark fiel an den SHS-Staat. In Unterkärnten wurde eine Volksabstimmung angesetzt, bei der sich auch die Mehrheit der slowenischsprachigen Bevölkerung am 10. Oktober 1920 für den Verbleib bei österreich aussprach. Die westungarischen Komitate wurden hingegen österreich zugesprochen, wobei allerdings eine Volksabstimmung das Komitat ödenburg/Sopron bei Ungarn beließ.

Emotional wichtig im Vertrag von Saint-Germain war die Untersagung, den Namen „Deutschösterreich“ führen zu dürfen, womit jeder Verweis auf einen möglichen Anschluss an Deutschland vermieden werden sollte. Das Heer wurde auf 10.000 Mann reduziert, und Reparationszahlungen wurden vorgeschrieben.

Am 21. Oktober 1919 ratifizierte die Konstituierende Nationalversammlung das Vertragswerk. Der Staat hieß von nun an „Republik österreich“. Von den Pariser Vororteverträgen zogen sich Legenden durch die Zwischenkriegszeit, wobei in der Republik österreich vor allem das starke deutschnationale Lager die deutschen Legenden („Im Felde unbesiegt“, „Dolchstoß“) übernahm. Dazu kam, dass man in österreich an der ökonomischen überlebensfähigkeit des Kleinstaates zweifelte, was ebenfalls als Kritik am Anschlussverbot zu lesen ist. Selbst John Maynard Keynes, der große ökonom, der als Vertreter des britischen Schatzamtes schon in Versailles dabei gewesen war, kritisierte die Friedensverträge als ökonomisch widersinnig, da sie die Verliererstaaten destabilisieren würden. Der so ange- häufte soziale Sprengstoff könnte zur Explosion führen.

Die Friedensverträge stabilisierten die Welt nicht. Auch in Europa kannte der neugegründete Staatengürtel von der Ostsee bis zur Adria mit Ausnahme der Tschechoslowakischen Republik nur kurze demokratische Zwischenspiele. Und kaum ein Staat verfügte nach innen über das Gewaltmonopol. So konnte der erhoffte Frieden für nicht einmal zwei Jahrzehnte gewahrt werden, ehe auf die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhundert das nächste und noch schlimmere Kriegsgeschehen folgte, mit seiner ideologisch-rassistischen Rechtfertigung, die auch außerhalb der Fronten Millionen von Menschen das Leben kosten sollte. Ein Teil der verwendeten Rechtfertigungsrhetorik fußte dabei in den Revisionsbestrebungen zu den Pariser Verträgen.

– Helmut Konrad –

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Friedens­vertrag-Anschluss­verbot

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Anschlussverbot Österreichs an Deutschland, festgehalten im Vertrag von Saint-Germain, Paragraph 88. 10. September 1919.

Friedensvertrag von Saint-Germain

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Die erste Seite des Vertrags von Saint-Germain. Der Vertrag wurde von Karl Renner am 10. September 1919 unterzeichnet.

Karte Österreichs

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10. September 1919. Vertrag von Saint-Germain. Darin, als Beilage 19, der Plan von Österreich.