Der Papierene

Dokument 78

„Er lebte, weil er leben musste, für das Fußballspiel“: Matthias Sindelar, Mittelstürmer und Kapitän des österreichischen Fußball-„Wunderteams“, ist die ideale Projektionsfläche der Volksseele: aus einfacher Herkunft, Fußballstar und erstes Marken-„Testimonial“ in den 20er- und 30er-Jahren, dem Wiener Habitus treu bis zu seinem mysteriösen Tod im Jänner 1939.

Niemals – so Hans Weigel 1950 in einer emphatischen Eloge auf die Wiener Austria – habe sich das große Wort vom „Spiel“ so erfüllt wie bei ihm, nie sei der Fußballsport anmutiger, geistreicher, überlegener und entmaterialisierter betrieben worden. Er sei der Rastelli, der Nijinsky des Fußballs gewesen, ein Wunder, ein Künstler, ein Phänomen – „ein Genie im wahrsten und höchsten Sinn dieser Worte“. Tatsächlich sahen alle Wiener, die ihn gekannt haben, „also alle Wiener“ (Friedrich Torberg) in Matthias Sindelar, diesem „Kind aus Favoriten“, einen Künstler seines Faches, in dem sich die klassischen Wiener Tugenden der Leichtigkeit und der Grazie, des Humors und der etwas verschlampten Genialität idealtypisch verdichteten. Er galt den Wienern somit als ideale Projektionsfläche ihrer selbst. Sie erblickten in ihm den überragenden Schauspieler, von dem man niemals vorhersagen konnte, wie er die Rolle des Mittelstürmers jeweils interpretieren werde. Und dies wiederum legte – wie etwa Wiens größter Theaterkritiker, Alfred Polgar, in einem bewegenden Nachruf schrieb – durchaus Assoziationen zum finten- und facettenreichen Spiel etwa eines Schachgroßmeisters nahe.

Matthias Sindelar war von ganz unten gekommen, er entstammte dem Milieu der sogenannten „Ziegelbehm“. Aufgewachsen in den Straßen des Favoritener Kreta-Viertels reifte der Halbweise zu einem wahren „Gstättn-Star“ heran und stieß 1924, vom Sport Club Hertha kommend, zur Wiener Austria (damals noch Amateur-Sportverein). Seine notgedrungen schwächliche körperliche Konstitution und eine daraus resultierende Fähigkeit, körperlich bei weitem überlegene Gegner mit geradezu spielerischer Leichtigkeit aussteigen zu lassen, brachten ihm den (anfangs nur wenig ehrenvollen) Beinamen „der Papierene“ ein. Doch seine überragende Balltechnik und Spielintelligenz ließen ihn bald zu der zentralen Figur der Wiener Austria wie auch des legendären, von Hugo Meisl gecoachten „Wunderteams“ heranreifen. Er wurde geradezu zum Synonym für die hohe Wiener Fußballschule, die sich durch ein engmaschiges, schnelles, mit hoher Präzision in Szene gesetztes Kurzpassspiel auszeichnete, angereichert mit Raffinesse, Eleganz und Witz. Als „Spielführer“ des Wunderteams und zweifacher Mitropacup-Sieger erreichte seine Popularität ungeahnte Höhen, die er als einer der ersten „Werbeprofis“ auch entsprechend umzusetzen wusste: Sindelar bewarb Milchprodukte (Fru Fru), agierte als Dressman und wirkte schließlich in einem Spielfilm mit dem Titel „Roxy und ihr Wunderteam“ (Budapest 1937) mit.

„Er wusste vom Leben außerdem nicht viel“, schreibt Friedrich Torberg in seiner berührenden Ballade auf den Tod eines Fußballspielers. Nur so viel war gewiss, es würde ein Leben nach der Karriere als Fußballspieler geben müssen. Sindelar nutzte die Gunst der Stunde und erwarb im August 1938 die Vorgenehmigung zur Führung eines Kaffeehauses, das dem Vorbesitzer (und engen Freund Sindelars) Leopold Drill im Zuge der sogenannten „nationalen Revolution von unten“ in den Wochen nach dem Einmarsch der deutschen Truppen entzogen worden war.

Ein halbes Jahr darauf verstarb der Papierene, zusammen mit seiner Freundin Camilla Castagnola, unter mysteriösen und bis heute ungeklärten Umständen. Die bereits in das Exil gedrängte Wiener Kaffeehausliteratur machte zur Gewissheit, was die Untersuchungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft jedenfalls nicht ausschließen konnten: den Freitod des ungekrönten Wiener Fußballkönigs angesichts der politischen und moralischen Vergewaltigung der Stadt durch die Nazis. Damit wurde der Mittelstürmer nachhaltig als eine Ikone der Wiener Identität und Selbstbehauptung befestigt. Sindelar habe nicht mehr leben können in einer entfesselten Zeit, der neben dem Wiener Fußball so vieles andere zum Opfer fiel, in der es im Fußball, ganz wie im Leben, mit der Wiener Schule vorbei war.

– Wolfgang Maderthaner –

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Ballade auf den Tod eines Fußballspielers

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4 Strophen von Friedrich Torbergs Ballade auf den Tod eines Fußballspielers.

Matthias Sindelar

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Wunderteamstar Matthias Sindelar als Werbeträger für das Milchprodukt „Fru Fru“. Wien.

Der „Papierene“

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2. Juli 1933, Wien. Matthias Sindelar, fotografiert von Mario Wiberal, im Mitropa-Cup-Spiel gegen Slavia Prag. Austria Wien siegte mit 3:0.

Matthias Sindelar

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Kapitän des legendären "Wunderteams"