Terra Nuova Scoperta

Dokument 49

Zwei Jahre gefangen im „Schrecken des Eises und der Finsternis“, schwer gezeichnet von härtesten Entbehrungen, jedoch nahezu ohne Verluste kehrt die österreichisch-Ungarische Nordpolarexpedition (1872–1874) an Bord der Admiral Tegetthoff unter großem Jubel der Bevölkerung wieder heim.

Es ist der 24. August 1874, als sich den vor der Küste des sibirischen Archipels Nowaja Semlja vor Anker liegenden Transchonern Wassilij und Nikolaj vier Boote mit zerlumpten, abgezehrten, über und über mit schwärenden Wunden bedeckten und von Erfrierungen unterschiedlichsten Grades gezeichneten Gestalten nähern. Schnell wird klar, dass es sich um die verloren geglaubten Mitglieder jener österreichisch-ungarischen Polarexpedition handeln muss, um deren Schicksal die unterschiedlichsten Mutmaßungen zirkulieren. Als Kapitän Feodor Woronin einen Schutzbrief des Zaren Alexander II. vorliest, den ihm einer der Expeditionsteilnehmer überreicht und der die Expedition der Obsorge seiner Untertanen anempfiehlt, entblößen die russischen Matrosen ihre Häupter und sinken auf die Knie.

Gut zwei Jahre davor war aus dem Hafen Tromsø der dreimastige, 32 m lange und 7,3 m breite 220-Tonnen-Barkschoner Admiral Tegetthoff ausgelaufen, ausgestattet mit einer 100 PS starken Auxiliardampfmaschine und unterhalb der Wasserlinie mit Eisenplatten verstärkt. Die italienisch-istrisch dominierte, durch die erfahrenen Bergsteiger Johann Haller und Alexander Klotz aus dem Südtiroler Passeiertal sowie den nordischen Eismeister Elling Carlsen ergänzte Mannschaft stand „zu Wasser und Eis“ unter dem Kommando des 33-jährigen Linienschiffsleutnants Carl Weyprecht, während „zu Lande“ dem 30-jährigen Oberleutnant Julius Ritter von Payer, Kartograf des Militärgeographischen Instituts, die Befehlsgewalt zukam. Weyprecht – polyglott, seeerfahren, in der Schlacht von Lissa durch besondere Kühnheit hervorgetreten – hatte bereits eine Vielzahl von nautischen und ozeanografischen Publikationen vorgelegt, Payer galt mit seinen mehr als dreißig Erstbesteigungen und seiner systematischen trigonometrischen Aufnahme der Ortlergruppe als Pionier der Alpinistik. Offizielles Ziel der Expedition war die Erforschung der weitgehend unbekannten (Meeres-)Gebiete nördlich Nowaja Semljas; implizit aber ging es – dabei durchaus imperialistisch-marktgetriebenen Motiven folgend – um die Entdeckung der sagenumwobenen Nordostpassage: die Durchfahrt vom Atlantischen in den Stillen Ozean nach Japan, China und Indien.

Genau vierzig Tage nach ihrem Auslaufen wird die Tegetthoff bei 76°22' nördlicher Breite und 62°3' östlicher Länge vom Eis eingeschlossen: eine Falle, der sie nicht mehr entkommen sollte. Unbeweglich und manövrierunfähig treibt sie gleichsam als Insel im ewigen Eis – in der „Stille des Todes über der geisterbleichen Landschaft“, wie Payer in seinen Notizen festhält –, während ihre Umgebung, bei bis zu 48 Minusgraden, schließlich in undurchdringliche, zähe Dunkelheit gehüllt wird und selbst die Wände der Schiffskajüten zolldick mit Eis bedeckt sind. Die Mannschaft wird wieder und wieder und doch stets vergeblich versuchen, ihr Schiff aus der tödlichen Umklammerung zu schlagen und es frei zu sprengen. Zwei lange Polarwinter, in denen acht Monate lang die Sonne nicht aufgeht, wird sie überstehen, alle nur denkbaren Höllenqualen erleiden müssen: Erfrierungen, Entzündungen, Skorbut, Fieberschübe, Angstzustände, Lethargie, Warten, Verzweiflung, Wahnvorstellungen. Und immer wieder das furchtbare, nicht enden wollende Dröhnen sich auftürmender, einander überlagernder und ineinander verkeilter Eismassen, die sie und ihr einst so stolzes Schiff jederzeit zu vernichten drohen – Eispressungen, unterbrochen nur von den kurzen Tagen des arktischen Sommers.

Gegen Mittag des 30. August 1873 lösen sich, als die Sonne durchkommt, letzte Nebelfetzen auf und geben den Blick auf etwas höchst Unerwartetes, ja Unglaubliches frei, und bald ist es Gewissheit: „Terra nuova scoperta“ (Neues Land entdeckt), notiert Bootsmann Pietro Lusina in das Logbuch. Nicht durch eigenes „Hinzuthun“, so Payer, „sondern nur durch die glückliche Laune unserer Scholle“. Als mit erneutem Einsetzen des Winters die Eisscholle mit der Tegetthoff an dem Eisgürtel, der den neu entdeckten Archipel umgibt, festfriert, begibt sich die gesamte Mannschaft auf die vorgelagerte, nach dem Finanzier der Expedition so benannte Wilczek-Insel und setzt ein Zeichen der Huldigung: Franz- Josephs-Land wird ihre Entdeckung von nun an heißen. Sobald es irgend möglich ist, in den frühen Märztagen des Folgejahres, wird Payer mit der Kartografierung beginnen, ein manisch Getriebener, ein zornig-fanatisch Maßloser, der seine äußersten Grenzen auslotet und die seiner Begleiter schlicht nicht zur Kenntnis nimmt; mehr als 800 km wird er zurücklegen, bis auf 82°5' nördlicher Breite vordringen, unzählige Vermessungen und Namensgebungen vornehmen (Cap Fligely, Cap Grillparzer, Tyroler-Fjord, Hohenlohe-Inseln usf.). Weyprecht hingegen drängt zum Rückzug, eine weitere überwinterung würden weder Mannschaft noch Schiff überstehen. Und so werden massive norwegische Walfängerboote mit insgesamt 90 Zentnern an Ausrüstung und Proviant beladen. Ab 20. Mai 1874 beginnt ein unsäglich beschwerlicher Rückzug; über schier endlose Eisfelder müssen die Rettungsboote gezerrt werden, „auf dem Weg nach Europa“, wie Weyprecht vorgibt. Eine Sisyphusarbeit sondergleichen – nach zwei Monaten haben sie gerade einmal 15 km geschafft. Doch in dem Moment, als sie sich endgültig aufzugeben drohen, beginnt das Eis zu brechen, erreichen sie, zu Mariä Himmelfahrt 1874, die Eisgrenze, schließlich das offene Meer.

Der Empfang der Expedition, die lediglich ein einziges Todesopfer zu beklagen hat, wird zu einem unvergleichlichen Triumphzug durch die Reichshauptstadt, doch sowohl Weyprecht als auch Payer bleiben in ihrer Grundhaltung distanziert und zurückgenommen sachlich. Der mit hohen Ehrungen ausgezeichnete Weyprecht stirbt sechs Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Eis, vermutlich an den Spätfolgen einer Malariainfektion, die er sich auf einer seiner Südseereisen zugezogen hatte. Payer, der seiner Entdeckung sehr bald „keinen Werth mehr“ zumisst, wird als Maler in Paris und Wien reüssieren und in monumentalen Gemälden die „Schrecken des Eises und der Finsternis“ abhandeln.

– Wolfgang Maderthaner –

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Reisepass Payer

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Der für Oberleutnant Julius Ritter von Payer ausgestellte Reisepass fir die Österreich-ungarische Nordpolarexpedition 1872-1874

Mannschaft des Expeditionsschiffs "Admiral Tegetthoff"

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Führer, Gelehrte und Mannschaft des Österr.-Ungarischen Polar-Expeditionsschiffs "Admiral Tegetthoff", 1872.

Kurs des Segelforschungsschiffs „Admiral Tegetthoff“

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1872–1873. Karte, gezeichnet von Carl Weyprecht.