Der Tag des Feuers

Dokument 74

Der Freispruch der Täter von Schattendorf – zwei unschuldige Menschen kamen bei Auseinandersetzungen zwischen Schutzbund und Frontkämpfervereinigung ums Leben – führt am 15. Juli 1927 zu einer gewaltigen, gewaltsamen Demonstration, die im Brand des Justizpalasts gipfelt. Die Polizei schießt, 89 Personen sterben. Der „point of no return“ ist erreicht, die Autokratie gewinnt die Oberhand.

Am 30. Jänner 1927 war von Mitgliedern der rechtsradikalen, pro-ungarischen Frontkämpfervereinigung im burgenländischen Schattendorf in einen Aufmarsch des sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbundes hineingeschossen und der arbeitslose Kriegsinvalide Matthias Csmarits sowie der achtjährige Josef Grössing waren dabei getötet worden. Ein Wiener Geschworenengericht sprach am 14. Juli die Angeklagten in allen Punkten, auch in der Eventualanklage der Notwehrüberschreitung, frei – am Tag nach der Urteilsverkündung sollte ein massenhafter Protest in Revolte umschlagen.

Am Morgen des 15. Juli wird um acht Uhr der Strom abgeschaltet, die Straßenbahnen stehen still – ein Signal, das seine Wirkung nicht verfehlt. Aus allen Großbetrieben Wiens ziehen nunmehr, offenkundig völlig spontan, gewaltige Demonstrationszüge in Richtung Ringstraße. Die Vorstadt marschiert gegen das Zentrum, improvisierte Transparente „Protest gegen das Schandurteil“ und „Wir greifen zur Selbsthilfe“ tauchen auf. Um die Mittagszeit sind im Parlamentsviertel an die zweihunderttausend Menschen versammelt.

Da beginnt die berittene Polizei – in aller Eile hinter dem Parlament in der Stärke von etwa 200 Mann zusammengezogen – mit rücksichtslosen Säbelattacken, die fatale Konsequenzen zeitigen. Ein immer größer werdender Teil der Demonstranten greift zur Selbstbewaffnung, immer häufiger gerät die Polizei in ernste Bedrängnis, immer häufiger macht sie von der Schusswaffe Gebrauch. Die Massenaktion des 15. Juli hat begonnen, sich gemäß einer unerbittlichen, einer tödlichen Logik zu entwickeln. Ihr sinnfälliges, ihr mächtiges Symbol findet sie im Justizpalast, Inbegriff des Unrechts, der Willkür, nicht Sitz der Schuldigen, doch gleichsam Verkörperung der Klassenjustiz – ein Symbol, das nunmehr in Flammen aufgeht. Die Demonstranten haben die Herrschaft über die Straße errungen.

Indessen lässt der Präsident der Bundespolizei Schober – Bürgermeister Seitz hatte die Beiziehung von Militärassistenz abgelehnt – an die 600 mit Bundesheer-Karabinern ausgerüstete Wachleute im Parlamentsviertel zusammenziehen; es sind in ihrer Mehrzahl in Ausbildung befindliche Schulmannschaften. Ohne jegliche militärische Vorkenntnisse, verängstigt, konfus und überfordert, beginnen sie ab dem Moment, da es gerade gelungen war, einen ersten Löschtrain zum Justizpalast durchzubringen, mit einem dreistündigen regelrechten Massaker. Die in Schwarmlinie vorgehenden Schulmannschaften feuern Salve um Salve gegen die Demonstranten, schreiende Massen in wilder Panik und regelloser Flucht, förmliche Treibjagden. Das brutale Vorgehen der Polizei steigert sich zur Bestialität: Unterschiedslos wird auf Verwundete, Frauen, Kinder, auf Sanitätsmannschaften geschossen. Im Rathaus, in den Räumlichkeiten des sozialdemokratischen Parlamentsclubs, im Gebäude des Stadtschulrats werden provisorische Ambulanzen eingerichtet. Parallel zur spontanen Massenaktion aber erheben sich die Ausgegrenzten, die Marginalisierten, die Plebejer der Vorstädte in zwei langen Tagen und Nächten der Anarchie. Überfälle auf Polizeiwachstuben, Plünderungen, gewaltsame Requirierungen von Privatautos und ähnliche Akte zivilen Ungehorsams markieren den sozialen Ausnahmezustand. 89 Tote, darunter fünf Angehörige der Exekutive, und eine nicht mehr bestimmbare Anzahl von Verletzten unterschiedlichsten Grades sind die Bilanz der Kämpfe.

Der 15. Juli 1927 war ein Tag der Massenrevolte, ein Tag der Barrikaden, ein Tag des Feuers. Es war, wie Elias Canetti in seinen Lebenserinnerungen festhält, eines jener seltenen öffentlichen Ereignisse, die eine ganze Stadt so ergreifen, dass sie danach nicht mehr dieselbe ist. Es war ein Tag von Tumulten und Exzessen, wie sie in Ausdehnung, Dauer und Stärke in dieser Stadt kaum je erlebt worden sind. Jedenfalls habe er, so Augenzeuge Canetti, an diesem „hellerleuchteten, entsetzlichen“ Tag das wahre Bild dessen gewonnen, „was als Masse unser Jahrhundert erfüllt“. Er selbst sei vollkommen aufgegangen in einer Masse, die zu ihrer Aktion eines starken, konkreten, leitenden Symbols bedurfte – eben des Feuers: das Niederbrennen der Redaktion der rechtkonservativen Reichspost (die das Urteil begrüßt und gefeiert hatte) und der größten Polizeiwachstube Wiens in der Lichtenfelsgasse, vor allem aber der in Flammen stehende Justizpalast. Die Masse besteht, solange dieses Symbol existiert und auf sie, durch sie wirkt. Die Masse sieht sich gleichsam im Feuer, das sie selbst entzündet hat; sie wird letztendlich selbst zum Feuer.

Jugendliche aus den Vorstädten waren durch mehrere eingeschlagene Parterrefenster in das Gebäude eingedrungen und hatten Akten in großer Zahl sowie Büromobiliar auf die Straße geworfen, wo sie zu einem riesigen Scheiterhaufen aufgetürmt wurden. Zuerst wird dieser Scheiterhaufen, dann das Gebäude selbst angezündet; die Massen versagen den auf den Löschtrains stehenden und leidenschaftlich argumentierenden sozialdemokratischen Spitzenfunktionären (darunter der Wiener Bürgermeister Karl Seitz sowie der Leiter des Republikanischen Schutzbundes, Julius Deutsch) die Gefolgschaft. Die Löschzüge der Feuerwehr werden am Durchkommen zu den Brandobjekten gehindert, die Wasserschläuche zerschnitten. Die Behinderung der Löscharbeiten wird von der Polizei mit scharfen Salven beantwortet, was die Masse ihrerseits mit vieltausendstimmigen, empörten Protestrufen quittiert. Darauf neuerliche Salven der Polizei, die die Masse sprengen, vertreiben, in die Flucht schlagen. Doch sogleich sammelt sie sich wieder, formiert sie sich erneut, dringt aus den Seitengassen ein weiteres Mal vor, mobilisiert, entfacht, angezogen vom Feuer des brennenden Justizpalastes. Die todbringenden Salven der Polizei haben die Masse nicht zerfallen lassen, sie haben sie vielmehr zusammengefügt.

Dieser „Tag des Feuers“, seine Ereignisse sind ein Vorschein auf das nahende Ende der Ersten Republik, und sie sind in die Weltliteratur eingegangen (Canetti, Doderer). Für das Österreichische Staatsarchiv waren die Ereignisse insofern von dramatischer Relevanz, als die im Justizpalast eingelagerten Bestände des Inneren schwer zu Schaden gekommen sind, darunter Ministerratsprotokolle oder, Ironie der Geschichte, ein Großteil der Spitzelberichte der Metternich’schen Geheimpolizei. Was dem Feuer entging, fiel in vielen Fällen dem Löschwasser zum Opfer. Die betroffenen Bestände lagern seitdem als sogenannte „Brandakten“ im Allgemeinen Verwaltungsarchiv und sind für die Benutzung weitgehend gesperrt.

– Wolfgang Maderthaner –

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