Leon Wolke

Dokument 99

Mit der „Affäre Waldheim“ legt sich der lange Schatten der Vergangenheit über das Land. André Hellers Leon Wolke (2002) besingt den Holocaust-Überlebenden und Gründer des Jewish Welcome Service Vienna, Leon Zelman (1928–2007). Das Lied endet mit den Zeilen: „Ja so redet Leon Wolke, und ich will, dass ihr es wisst. Denn man kann nur Lehren ziehen, aus dem, was man nicht vergisst.“

Es war die „Wiederkehr des Verdrängten“, die bis dahin wohl schwerste Erschütterung des konsensualen Selbstverständnisses, der weitgehend unhinterfragten Identität der Zweiten Republik. Der konservative Kandidat im Bundespräsidentschaftswahlkampf 1986, der Karrierediplomat und ehemalige UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim, hatte auf Recherchen des Nachrichtenmagazins profil zu ungeklärten Punkten seiner Kriegsvergangenheit – und darauf basierende schwere Angriffe seiner politischen Gegner – höchst undiplomatisch reagiert und die unglückliche Phrase von seiner vorgeblichen „Pflichterfüllung“ in die Auseinandersetzung eingebracht. Waldheim konnte den überaus emotionalen, im Zeichen eines „Jetzt erst recht“ geführten Wahlkampf für sich entscheiden, wurde aber im April 1987 vom US-Justizministerium auf die Watchlist gesetzt und war bis zum Ende seiner Präsidentschaft 1992 nicht mehr imstande, die daraus resultierende internationale Isolierung aufzubrechen.

Was aber auch immer die näheren Umstände und Bestimmungsmomente der sogenannten Waldheim-Affäre gewesen sein mögen, in einer Hinsicht zumindest entfaltete sie besondere historische Wirkungsmächtigkeit – in der bis dato durchaus verzögerten Auseinandersetzung des Landes mit seiner jüngeren Vergangenheit: Im Juli 1991 bekennt sich Bundeskanzler Franz Vranitzky zur historischen Mitverantwortung Österreichs in all ihren Aspekten und bittet, im Namen der Republik, zwei Jahre später in einer großen Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem die Opfer österreichischer Täter um Verzeihung. Die Geschichtswissenschaften aber unternehmen breit angelegte, durchaus engagierte Anstrengungen einer entsprechend fundierten Annäherung an die Problematik von Schuld und Sühne. Sie laufen dabei allerdings stets Gefahr, angesichts der sich einer rationalen Erklärung entziehenden Geschehnisse der 1930er- und 1940er-Jahre Geschichte auf eine Form von Bedenk- und Gedenkkultur, auf ein Institut des Moralischen, auf ein ethisches Unternehmen zu reduzieren.

So verwundert es nicht, dass einer der gültigsten und stärksten Beiträge zur Debatte eine poetische Intervention sein wird. 2002 erscheint auf einem in Gardone am Gardasee aufgenommenen Tonträger des Chansonniers, Lyrikers, Designers und Multimediakünstlers André Heller ein (zunächst kaum rezipierter) Hymnus auf einen Holocaust-Überlebenden aus dem „zweiten Wiener Hieb“. Unaufgeregt und doch zutiefst berührend, subtil und zugleich explizit und deutlich, unaufdringlich und zugleich erschütternd, ist es ein Text, dem man sich einfach nicht zu entziehen vermag. Heller, laut eigener Aussage „aus einem Material gemacht, das offensichtlich nicht mehr erzeugt wird“, hat zu diesem Zeitpunkt bereits ein künstlerisches Werk vorgelegt, das in seiner Breite, Differenziertheit und Vielfältigkeit seinesgleichen sucht. In sehr jungen Jahren zu der vornehmlich im Café Hawelka versammelten Wiener Avantgarde gestoßen, unterscheidet sich sein Kulturbegriff, gleichermaßen am (modern) Massenkulturellen wie am (vormodern) Spektakelhaften orientiert, jedoch nachdrücklich. Heller wird so zum Erneuerer von Zirkus und Varieté (Begnadete Körper), betreibt den avantgardistischen Vergnügungspark La Luna, inszeniert Kunstwerke des Augenblicks (Feuerspektakel in Lissabon und Berlin), entwirft Labyrinthe, Kristallwelten oder Heißluftballon-Skulpturen (u.a. für New York, Moskau, San Francisco, Niagarafälle), gestaltet Filmporträts (Jessye Norman, Helmut Qualtinger), konzipiert das Kulturprogramm der Fußball-WM 2006, legt (zuletzt nahe Marrakesch) Gartenkunstwerke an und tritt als profilierter Interviewer (so etwa in einem aufsehenerregenden Gespräch mit Hitlers Sekretärin Traudl Junge) und Romancier (Das Buch vom Süden) hervor.

Seine Karriere begann Heller als Radiomoderator der legendären Ö3-Musicbox; 1970 erscheint in Zusammenarbeit mit Robert Opratko eine erste LP, für die er die Creme der österreichischen Jazzmusiker (u.a. Erich Bachträgl am Schlagzeug und Fritz Pauer am Klavier) engagiert und die, obwohl oder weil er eine Form wienerischen Chansons pflegt, enorm erfolgreich wird. Über eine Vielzahl musikalischer Produktionen behält Heller diese Linie bei und entwickelt sie weiter, lässt unterschiedliche Genres und Traditionen einfließen.

In Leon Wolke porträtiert er, unschwer erkennbar, mit Leon Zelman einen auf ganz eigene, eigensinnige Weise Nach- und Fortwirkenden. 1928 in Szczekoziny (Polen) geboren, wurde Zelman 1940 in das Getto Łódz´ überstellt, 1944 in das KZ Auschwitz und schließlich nach Mauthausen-Ebensee. Zum Zeitpunkt seiner Befreiung wiegt er, bei 1,78 Körpergröße, 38 kg und hat offene Tbc. 1946 geht er nach Wien, schlägt den zweiten Bildungsweg ein, schließt 1954 ein Studium der Zeitungswissenschaften ab, wird Mitbegründer des Jüdischen Echo, und Ende der 1970er-Jahre Leiter des Jewish Welcome Service, einer Organisation, die Vertriebenen der Jahre 1938/39 nach langen Jahren der Emigration Österreich-Aufenthalte ermöglicht. Mit der ihm eigenen Kraft, insistent, jedoch ohne seine Person jemals in den Vordergrund zu spielen, mit einer stillen Liebe zu diesem, seinem Land ausgestattet, betreibt Zelman seine Projekte. Er verstirbt, von der Republik, der Stadt und der Universität Wien mit höchsten Auszeichnungen bedacht, im Juli 2007.

– Wolfgang Maderthaner –

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André Hellers Manuskript zum Chanson „Leon Wolke“. 2002.