Der Kampf um die Seele Europas

Epilog

Festung Europa? 2015 kommt es zu einem sprunghaften Anstieg der Migration Richtung Europa. Es folgen Maßnahmen zur Abschottung der Außengrenzen. Xenophobie flackert auf, die Visegrád-Staaten verweigern Solidarität, der „Brexit“ Großbritanniens erschüttert die Union. Die Kompassnadel kreist, die künftige Ausrichtung Europas ist mehr denn je ungewiss.

Die Bilder bleiben unvergesslich: Am 5. September 2015 gegen 5 Uhr morgens kommt eine Kolonne von Reisebussen und Sonderzügen aus Budapest in Nickelsdorf an. Rund 10.000 Flüchtlinge sind es auf einen Schlag. „Die Leute drängen aus den Fahrzeugen, laufen kreuz und quer über die Wiese. Alle rufen ‚Germany, Germany‘“, erinnert sich Hans Peter Doskozil, der damalige Polizeidirektor des Burgenlandes. Über gute Kontakte und Kanäle erfährt er wenige Stunden vor dem Ansturm an der österreichischen Grenze, dass Budapester Behörden Hunderte Busse und Züge losgeschickt haben. „Uns war allen klar, dass rigide Grenzkontrollen in diesem Fall nicht möglich gewesen wären. Die Grenze zu schließen, das hätte nicht funktioniert und nur zu einer gefährlichen Eskalation geführt. Österreich war 2015 auf diese Situation nicht ausreichend vorbereitet.“ Offene Worte des Polizeichefs.

Wochenlang steht Hans Peter Doskozil persönlich an der Grenze, organisiert in der unübersichtlichen Situation die Erstversorgung der Flüchtlinge und ihren Weitertransport. Der Mann an vorderster Front ist bald als Manager der Flüchtlingskrise bekannt. Bis Mitte Oktober 2015 kommen in Nickelsdorf täglich 10.000 Flüchtlinge an, an einem Tag sind es sogar 20.000. Doskozil moderiert, koordiniert und informiert: In Pressekonferenzen und Interviews gibt er unaufgeregt Auskunft über die Lage und stellt Lösungen vor: Enge Kooperation mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge, um den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu bieten, vor allem Ausbildung und Jobs. Auch einen effizienteren Außengrenzschutz brauche die EU und vor allem mehr Zusammenarbeit ihrer Mitglieder.

Europa kennt aber auch andere Szenen als jene geordnete im Burgenland: übervolle Camps, Chaos und Gewalt bei der Räumung des Flüchtlingslagers Idomeni im griechisch-mazedonischen Grenzgebiet, Menschen, die auf überfüllten Booten im Mittelmeer sterben, 3.400 sind es allein 2017, sagt die UNO. Und was sich in Libyen und anderen nordafrikanischen Ländern ereignet, ist Sklaverei, Menschenhandel und Folter. Schleuser verrichten in enger Kooperation mit den Mächtigen und der Polizei ihr kriminelles Geschäft.

Was im Herbst 2015 für jeden sichtbar beginnt, ist eine Zuwanderung Hunderttausender Menschen – ein Phänomen, das in diesem Ausmaß bislang unbekannt war. Heute setzt es sich fort, wenn auch weniger dramatisch – zumindest derzeit. Jeder Politiker weiß, dass sich Menschen weiterhin auf den Weg Richtung Europa machen werden, weil sie vor Krieg und den Auswirkungen der Klimaveränderung flüchten, weil sie verfolgt werden, Asyl und Schutz brauchen – hinzu kommt der demografische Druck in vielen Ländern. Laut UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, waren 2017 mehr als 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht.

Ein großes privates Engagement der Zivilgesellschaft hilft zunächst, die Flüchtlinge unterzubringen, bis viele nicht mehr können und rechtspopulistische Parteien Stimmung gegen die Fremden machen. „Willkommenskultur“ wird rasch zum Kampfbegriff. Die EU-Kommission schlägt eine faire Aufteilung der Flüchtlinge vor, die Mehrheit der EU-Innenminister beschließt die Quotenregelung. Von den Visegrád-Staaten wird sie abgelehnt. Auf europäischer Ebene kommen keine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik und keine gemeinsamen Regeln zustande. Von Anfang an gehen Mitgliedsstaaten ihre eigenen Wege bei der Lösung der Migrationsfrage: Ungarn baut einen 180 Kilometer langen und sieben Meter hohen doppelten Zaun, Österreich beschließt eine Obergrenze an einreisenden Flüchtlingen, Athen und Rom appellieren an die EU-Partner um Unterstützung. In Berlin versucht Bundeskanzlerin Angela Merkel lange ihrer Aussage treu zu bleiben: „Wenn Deutschland in einer Notsituation nicht ein freundliches Gesicht zeigen kann, dann ist das nicht mein Land.“ Sie hält die Grenzen offen für Flüchtlinge, und der liberale Teil der Welt ist begeistert von diesem humanitären Politikansatz.

Aber das ist vorbei. Auch Deutschland macht einen U-Turn in der Flüchtlingspolitik. Der Wahlerfolg der AfD, die Propaganda von rechts und die Konzept- und Ideenlosigkeit der Linken haben dazu beigetragen, auf Law and Order zu setzen. Restriktive Grenzkontrollen im Schengen-Raum, der Zone des einstigen freien Reisens, werden wieder eingeführt.

Von einer kohärenten Strategie in der Frage der Zuwanderung ist die EU weit entfernt. Kein politisches oder ökonomisches Ereignis in den vergangenen Jahren – nicht einmal die Schuldenkrise, die Griechenland an den Rand einer Staatspleite brachte – hat so sehr demokratiepolitische Defizite und den Mangel an Kompromissbereitschaft unter den EU-Regierungen aufgezeigt, wie die Ankunft von gut einer Million Migranten seit 2015. Nie zuvor in der Geschichte der Europäischen Union wurden die Werte und Grundprinzipien Solidarität und Fairness dermaßen verletzt wie durch die gescheiterte Lösung der Flüchtlingskrise. Das ist nicht nur bedenklich, sondern auch gefährlich für das europäische Projekt. „Die Flüchtlingskrise drängte die EU bereits in Richtung Zerfall, bevor sie am 23. Juni 2016 dazu beitrug, die Briten zu ihrem Votum für den Austritt aus der EU zu bewegen. Die Krise und die von ihr mit ausgelöste Brexit-Tragödie haben fremdenfeindliche, nationalistische Bewegungen gestärkt“, kommentiert George Soros, der gebürtige Ungar, US-Investor sowie Gründer und Financier der Open Society Foundation.

Der bekannte Politikwissenschaftler Bassam Tibi hat im Zuge der Flüchtlingskrise gefordert, dass die EU etwa 20 Prozent seiner Einwohner, die mit Migrationshintergrund hier leben, zu Bürgern im Verständnis von Citoyen macht, das heißt zu Mitgliedern eines Gemeinwesens ohne Bezug auf Religion und ethnische Herkunft, so wie der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau einen „Citoyen“ definiert hat. Mit diesem Ansatz ist die EU gänzlich gescheitert und hat damit den Kampf um ihre Seele aufgegeben.

– Margaretha Kopeinig –

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Pressekonferenz zum Status Quo während der "Flüchtlingskrise"

Dokument EPILOG

Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil, Bundesrettungskommandant Gerry Foitik und Thomas Wallner, Landesgeschäftsleiter beim Roten Kreuz Burgenland, während einer Pressekonferenz vor dem alten Zollgebäude in Nickelsdorf. 6. September 2015.