Wovon man nicht sprechen kann ...

Dokument 63

Ob Ludwig Wittgenstein tatsächlich jene Sorte Stoiker war, „die niemals Kleinigkeiten wie explodierende Granaten bemerkt hätte, wenn er gerade über Logik nachdachte“ (Bertrand Russell), mag bezweifelt werden – seine Fronterfahrungen in Galizien finden Niederschlag in seinem Tagebuch und, wenngleich stark sublimiert, im weltberühmten Tractatus.

„Wir haben’s getan, sie haben’s getan; das ist keiner, das ist ‚Es‘.“ Dies schreibt Robert Musil 1921 in einer brillanten Rückschau auf die traumatischen Erfahrungen des Großen Kriegs. In einem ungeheuren Massenexperiment habe dieser Krieg die Menschen als etwas „nahezu Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges“ ausgewiesen, für jegliche Barbarei gleichermaßen begabt wie für die Kritik der reinen Vernunft. Der Einzelne sei, bei voller Illusion des eigenen Willens, willenlos gefolgt. Musil – selbst als Offizier für längere Zeit an der italienischen Front im Einsatz – nähert sich dem Trauma der modernen Massenvernichtung in den Kategorien Sigmund Freuds: als eine Manifestation des kollektiven Unbewussten.

Dem liegt ein im Kontext des Kriegs ablaufender, tief greifender kultureller Wandel zugrunde. Und ein Aspekt, ein zentraler Aspekt solch fundamentaler Transformation lässt sich in dem fatalen Auseinanderfallen von sozialer Praxis und technologischer Entwicklung festmachen. Der Krieg, so Walter Benjamin, habe vor allem erwiesen, „daß die soziale Wirklichkeit nicht reif war, die Technik sich zum Organ zu machen, daß die Technik nicht stark genug war, die gesellschaftlichen Elementarkräfte zu bewältigen“. Eine massive Diskrepanz tat sich auf zwischen dem Vernichtungspotenzial der industrialisierten, anonymen Kriegsmaschinerie einerseits und dem im Prinzip vormodernen Deutungs- und Legitimationskanon des Kriegsgeschehens andererseits – „zwischen den riesenhaften Mitteln der Technik auf der einen, ihrer winzigen moralischen Erhellung auf der anderen Seite“.

Die moderne Vernichtungstechnologie hat in der Tat qualitativ neue Dimensionen erschlossen. Sobald die Anfangsoffensiven an de facto allen Fronten zur Jahreswende 1914/15 leergelaufen, die Kampflinien erstarrt waren und sich die feindlichen Verbände in Schützengräben verschanzt hatten, potenzierte sich die Intensität des Maschinenkriegs um ein Vielfaches. Ganze Landstriche und Regionen verwandelten sich in verwüstete, gespenstisch verformte killing fields, in makabre „Terrains des Todes“, in denen, wie Stefan Zweig schreibt, „der einsame Mensch kaum mehr sichtbar ist und kaum mehr als ein flüchtiger Punkt erscheint“. Die schiere Zahl der zerrissenen, zerfetzten, zerschossenen Toten, die Schwere und Neuartigkeit der Verwundungen, die namenlosen, traumatisierenden Gräuel entziehen sich häufig der konzisen sprachlichen Fassung und der adäquaten Begrifflichkeit.

Selbst ein so kompromissloser, von der Aura der Unverwundbarkeit umgebener „Krieger“ wie Ludwig Wittgenstein blieb 63 vom realen Kriegswahnsinn keineswegs unbeeindruckt. Im Frühsommer 1916 mobilisierte die zaristische Militärmaschinerie in der ersten Brussilow-Offensive noch einmal ihre gesamte Vernichtungskraft und leitete in Wolhynien und Galizien Kämpfe ein, die zu den schwersten und verlustreichsten des gesamten Kriegs zählen. In den Schlachten bei Kolomea in der Bukowina wird Wittgensteins Einheit aufgerieben und büßt mehr als drei Viertel ihres kompletten Mannschaftsstandes ein. Der verbleibende Rest tritt einen fluchtartigen Rückzug in die Karpaten an. Stets ist der Artillerie-Aufklärer Wittgenstein an vorderster Linie zu finden, bleibt aber wie durch ein Wunder gänzlich unversehrt. Wittgenstein hat sich dem Krieg mit einer bis ins Autistische gesteigerten Emotionslosigkeit genähert, dem Primat des Abstrakten, der strengen Objektivierung, des mathematisch-logischen Kalküls folgend. Es galt, archaische Instinkte und Triebe zu reanimieren und diese zugleich zu sublimieren, den „mathematischen“ Blick auf das eigene Kriegserleben selbst in Extremsituationen aufrechtzuerhalten: „Furchtbare Witterung. Im Gebirge, schlecht, ganz unzureichend beschützt, eisige Kälte, Regen, Nebel. Qualvolles Leben. Furchtbar schwierig, sich nicht zu verlieren“, notierte er in sein verschlüsseltes „Geheimes Tagebuch“. Und weiter: „Denn ich bin ja ein schwacher Mensch. Aber der Geist hilft mir.“

Wittgenstein hat in diesem Sinn seine philosophischen Problemstellungen stets mit bestimmten militärischen Konstellationen zu verknüpfen gewusst. Im Sommer und Herbst 1915 führte er in der ostgalizischen Etappe seine seit dem Aufenthalt in Cambridge und vermehrt in der Abgeschiedenheit Norwegens entwickelten überlegungen und logisch-technischen Ausführungen zusammen. Mit seinem Fronteinsatz allerdings durchlief der ursprüngliche Ansatz in der Tradition Ernst Machs eine entscheidende Transformation: Die Transformation in jenes verstörend-rätselhafte, eigenartig hybride, meisterhafte Frühwerk, das eine Theorie der Logik mit religiösem Mystizismus zu verbinden suchte, das im Sommer 1918 unter dem Titel „Tractatus logico-philosophicus“ seine endgültige Form erhielt und mit dem Wittgenstein zentrale Probleme der Philosophie endgültig gelöst zu haben glaubte. Sein erster Teil, sein ominöser erster Satz schließen direkt an den Mach’schen antimetaphysischen Gestus an: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Die Dinge erscheinen nur in Sachverhalten; Sätze stellen Sachverhalte dar und bilden sie logisch ab, ohne allerdings über deren Wahrheit zu entscheiden. Synthetische Urteile und Ordnungen a priori sind, dem Mach’schen Werterelativismus gemäß, nicht gegeben.

In der mystisch-metaphysischen Wende der Schlusspassagen hingegen hat Wittgenstein seine traumatischen Fronterfahrungen eingearbeitet und verdichtet. Eine Problematik vor allem wird er aufzulösen versuchen, eine Grenzziehung wird er vornehmen: die Trennung des aussagbaren Bereichs der Naturwissenschaft von dem nicht aussagbaren der Metaphysik, Ethik, Mystik; die Scheidung zwischen (wissenschaftlich) Sagbarem und (metaphysischem) Zeigen. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Die Philosophie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare; sie soll das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt; und so endet der Tractatus denn auch in der programmatischen Forderung: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“

– Wolfgang Maderthaner –

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Kriegstagebuch des Ludwig Wittgenstein

Dokument 63

25. Oktober 1914, Sandomierz. Eintrag Wittgensteins in sein verschlüsseltes geheimes Kriegstagebuch.