Selbstbehauptung und eingeschränkte Souveränität

Dokument 89

„… und aller Dreck wird untergehen“: Julius Raabs lyrischer Eintrag in Leopold Figls Gästebuch aus 1944 ist beseelt von der begründeten Hoffnung auf das Ende des NS-Terrors und der Unabhängigkeit Österreichs. 15 Monate später ist ersteres zwar erreicht, das Warten auf letztere sollte schlussendlich zehn Jahre dauern.

Beide hier zu beschreibenden Quellenstücke stehen in einem engen Zusammenhang mit den Ursprüngen der Zweiten Republik und mit der Person des ersten österreichischen Bundeskanzlers der Nachkriegszeit, Leopold Figl. Sie sind auf den ersten Blick ganz unterschiedlicher Natur. Und doch kreisen sie um dieselben Grundgedanken: Es geht um die staatliche Wiederherstellung Österreichs, um seine Souveränität und um sein Verhältnis zu den Alliierten des Zweiten Weltkriegs, die 1945 als Befreier wie auch als Besatzer nach Österreich kamen.

Das erste Dokument ist dem Gästebuch Leopold Figls entnommen. Es handelt sich dabei um einen Eintrag seines lebenslangen Freundes Julius Raab am Ende eines Beisammenseins vom 29. Jänner 1944. Raab, der ältere der beiden, hat seiner Unterschrift den Vermerk „Der Chef“ hinzugefügt. Und tatsächlich war Julius Raab zu diesem Zeitpunkt der Arbeitgeber Leopold Figls. Dieser war am 7. Mai 1943 nach mehr als fünfjähriger Gefangenschaft in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg freigekommen. Raab hingegen war 1938 nur mit einem Berufs- und Aufenthaltsverbot in seiner niederösterreichischen Heimat belegt worden. Er hatte daraufhin in Wien eine Straßenbaugesellschaft gegründet. In dieser verschaffte er seinem Freund sofort nach dessen Entlassung aus dem KZ eine Anstellung. Sie bot Figl eine Deckung dafür, seine politischen Kontakte zu den früheren Parteifreunden aufzunehmen und sein politisches Netzwerk wieder aufleben zu lassen. Um ein solches konspiratives Treffen in der politischen Illegalität handelte es sich auch am 29. Jänner 1944.

Julius Raab gefiel sich darin, bei seinen Eintragungen mitunter zu reimen. Dass dabei das Wollen mit dem Können nicht ganz Schritt hielt, belegen die etwas holprig geratenen Verse:

„Bald wird wieder das Frühjahr sein.
Dann gehört die Heimat wieder mein.
Dann bauen wir sie auf zu neuem Leben.
Mag es auch viel Arbeit und Mühe geben.
Sie alle konnten uns nicht brechen noch beugen,
die Welt wird es einmal müssen bezeugen.
Österreich ist, wird sein, wird bestehen
und aller Dreck wird untergehen.“

Man kann wohl davon ausgehen, dass die Zeilen Raabs eine Art Zusammenfassung der an diesem Abend geführten Gespräche darstellten. Diese kreisten demnach um die Wiedererrichtung Österreichs nach dem herbeigesehnten Untergang des „Dritten Reiches“. Die Eintragung Raabs war ein mutiges, fast etwas leichtsinniges Österreichbekenntnis. Denn wäre das Tagebuch, etwa bei einer Hausdurchsuchung, der Gestapo in die Hände gefallen, hätten Raabs Verse mit Sicherheit fatale Folgen für alle Teilnehmer des Abends gehabt.

Historisch von Interesse sind insbesondere die letzten vier Zeilen. Sie bezogen sich nämlich inhaltlich auf die von den Alliierten drei Monate zuvor beschlossene Moskauer Deklaration. Sie war den Teilnehmern des Abends wohl bekannt, war die Nachricht darüber doch über „Feindsender“ verbreitet und in großer Auflage als Flugblätter über Österreich abgeworfen worden. Die illegalen politischen Zirkel in Österreich wussten über sie Bescheid. Quasi als Antwort auf die von den Alliierten geforderten politischen und militärischen Beiträge von österreichischer Seite setzte Raab den österreichischen Selbstbehauptungswillen als bereits vor der staatlichen Wiederherstellung feststehendes Faktum voraus. Auch die Anti-Hitler-Koalition der Alliierten würde nicht umhin können, dies anzuerkennen. Ein wenig schimmert dabei durch, dass die österreichische Opferthese damals schon Teil des Selbstverständnisses dieser in der Illegalität agierenden Männer war. Dabei saßen zwei Männer mit Figl und Raab sowie dessen Gattin Hermine am Tisch, die Verbindungen zu dem von den Alliierten geforderten bewaffneten Widerstand hatten. Es handelte sich um Heinrich Otto Spitz und den späteren Wiener Stadtrat Anton Rohrhofer. Beide waren Unternehmer aus Raabs engerem politischen Umfeld. Insbesondere Heinrich Otto Spitz spielte in der Widerstandsbewegung eine wichtige Rolle, sollte doch in seinem Haus im Dezember 1944 die Gründung des Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees POEN stattfinden. Spitz war ein Bindeglied zwischen den in der Illegalität agierenden ehemaligen christlich-sozialen Politikern, die bereits die Gründung einer neuen bürgerlichen Sammelpartei vorbereiteten, und dem bewaffneten Widerstand. Am 10. April 1945 fiel er der aus Wien abziehenden SS im letzten Augenblick in die Hände und wurde erschossen.

Auch das zweite Dokument hängt eng mit der Person Leopold Figls zusammen. Es handelt sich um ein Schreiben von ihm an den turnusmäßigen Vorsitzenden des Alliierten Rates, den sowjetischen Marschall Ivan S. Konev, vom 18. Jänner 1946, also knapp einen Monat nach seiner Angelobung als Bundeskanzler. Zwischen den beiden Dokumenten vom Jänner 1944 und Jänner 1946 lagen die wohl dramatischsten zwei Jahre im Leben Leopold Figls. Im Oktober 1944 war er neuerlich verhaftet und im November 1944 in den berüchtigten Isoliertrakt des Konzentrationslagers Mauthausen eingeliefert worden. Ende Jänner 1945 kam er ins Landesgericht Wien, wo ihm der Prozess vor dem Volksgerichtshof gemacht werden sollte. Bis Ende März fanden Hinrichtungen im Landesgericht statt. Noch Anfang April wurden 40 verurteilte Häftlinge nach Stein gebracht und dort erschossen. Figl hatte Glück. Als die Schlacht um Wien begann und die Sowjettruppen auf die Innenstadt vorrückten, öffneten sich für ihn und seine Mithäftlinge am 6. April 1945 die Gefängnistore. Bereits am 12. April 1945 wurde der frühere Bauernbunddirektor von dem die sowjetischen Truppen kommandierenden Marschall Fedor I. Tolbuchin beauftragt, an der Lebensmittelversorgung der Stadt mitzuwirken. Von diesem Moment an stand Figl wieder voll im politischen Leben: Er wurde erster Landeshauptmann von Niederösterreich, er war der führende Mann bei der Wiederbegründung des Bauernbundes und einer der Gründer der Österreichischen Volkspartei. In der Provisorischen Staatsregierung Karl Renners fungierte er als de facto Vizekanzler und ging als Spitzenkandidat der ÖVP in die ersten Nationalratswahlen vom 25. November 1945. Danach bildete er die erste frei gewählte Bundesregierung, die am 20. Dezember 1945 angelobt wurde.

Doch war Österreich zu diesem Zeitpunkt alles andere als ein souveräner Staat. Dafür ist der vorliegende Brief ein schlagendes Beispiel. Zwar war am 20. Oktober 1945 die Provisorische Staatsregierung von allen vier Besatzungsmächten anerkannt worden. Doch kam der Regierung nicht die oberste Regierungsgewalt im Lande zu. Über ihr stand der Alliierte Rat, dem alle Gesetze zur Zustimmung vorgelegt werden mussten. Dies war der Inhalt eines Memorandums der Besatzungsmächte, das der Staatsregierung am 20. Oktober 1945 überreicht wurde. Schon zuvor hatten die Sowjets in ihrer Zone eine gewisse Kontrolle der Gesetzgebung ausgeübt. Sie war jedoch formloser gewesen und hat der Regierung ein höheres Maß an Bewegungsfreiheit ermöglicht. Nunmehr bedurften alle Regierungsakte der ausdrücklichen schriftlichen Zustimmung der Besatzungsmächte, bevor sie in Kraft treten konnten. Doch gingen die Einmischungen der Alliierten auch darüber hinaus; besonders deutlich wurde dies, als sie bei der Bildung der ersten Regierung Figl personelle Veränderungen bei deren Zusammensetzung erzwangen. Der Staatsvertragshistoriker Gerald Stourzh hat im Hinblick auf den Beginn der Regierungstätigkeit Figls festgehalten: „Es gehörte zur schweren Bürde des Amtes, das Leopold Figl im Dezember 1945 als erster Kanzler der aus freien Wahlen hervorgegangenen Bundesregierung auf sich nahm, dieses Amt auf dem Höhepunkt weitest gehender Alliierter Kontrolle antreten zu müssen.“

Die Besatzer nahmen die von ihnen beanspruchte Überwachungs- und Kontrollkompetenz gegenüber der Regierung voll in Anspruch. Davon legt das vorliegende Fallbeispiel der Verordnung über die Erleichterung von Beschränkungen des Schillinggesetzes ein beredtes Zeugnis ab. Zwar versuchte Figl mit dem ihm eigenen politischen Geschick die Grenzen seiner Regierung auszuloten und zu erweitern. Doch im Jänner 1946 musste er klein beigeben.

Es war die Periode der „totalen Kontrolle“, wie sie Gerald Stourzh genannt hat. Sie hatte – paradoxerweise – zeitgleich mit der Anerkennung der Provisorischen Staatsregierung am 20. Oktober 1945 durch alle vier alliierten Mächte begonnen und sollte am 28. Juni 1946 mit dem Inkrafttreten des Zweiten Kontrollabkommens ihr Ende finden.

– Helmut Wohnout –

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