Oberst Redl

Dokument 61

Oberst Alfred Redl (1864–1913), Protagonist eines beispiellosen Spionageskandals, bietet Stoff für eine Fülle zeitgenössischer Gazetten-Berichte und nachgelagerte literarische und tontechnische Verwertungen: Mythos und Wahrheit.

Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf sah sich am 26. Mai 1913 gezwungen, eine Meldung an die Militärkanzlei Seiner Majestät des Kaisers und Königs zu erstatten, die einen Skandal größtmöglichen Ausmaßes betraf.

Was war passiert? „Oberst Redl, der höchste Spionagechef der österreichischen Armee, war gleichzeitig gekaufter Spion des russischen Generalstabs.“ So fasste Jahre später Stefan Zweig die Affäre rund um Alfred Redl zusammen. Der Schriftsteller hatte den Obersten nur flüchtig gekannt. Im Mai 1913 aber, als Redl als Agent „feindlicher Mächte“ entlarvt wurde, erschien der Mann, der wie ein „guter österreichischer Durchschnittsoffizier“ aussah, in einem völlig neuen Licht. „Ein Schauer des Entsetzens ging durch die Armee. Alle wussten“, behauptet der Literat in seinem Werk Die Welt von Gestern, „dass im Kriegsfall dieser eine Mensch das Leben von Hunderttausenden gekostet hätte und die Monarchie durch ihn an den Rand des Abgrunds geraten wäre“.

Das Mythenpotenzial dieses – weit über die Grenzen der Habsburgermonarchie hinaus – aufsehenerregenden Skandals ist enorm. In Romanen und Sachbüchern ebenso wie in Reportagen und Filmen wurde der Fall des „Jahrhundertspions“ aufbereitet. In den Jahrzehnten nach 1913 näherten sich Autoren und Regisseure dem „Stoff“ auf unterschiedlichen Ebenen an. Schon die Enthüllungen des „rasenden Reporters“ Egon Erwin Kisch, der für sich in Anspruch nahm, dem Skandal als Erster auf die Spur gekommen zu sein, verweisen auf eine Reihe von Ungereimtheiten. „Künstlerische Freiheiten“ standen auch bei anderen, die sich der Geschichte des spionierenden Generalstabsoffiziers zuwandten, höher im Kurs als Fakten: Das „Scheusal Redl“ mutierte bisweilen zum „Opfer“ dunkler Machenschaften – Widersprüche inklusive: Der „homosexuelle Verräter“, der angeblich vom russischen Geheimdienst ob seiner „verhängnisvollen Leidenschaft“ erpresst worden war, wurde auch als „Zielobjekt“ verführerischer Frauen vorgeführt. Umrahmt von gängigen Klischees über die Donaumonarchie, trat der spionierende Oberst zudem als eine Art gewitzter „Gentleman-Betrüger“ in Erscheinung oder als tragische Figur inmitten einer zugrunde gehenden Welt.

Die Quellen sprechen eine andere Sprache. Alles deutet darauf hin, dass Redl aufgrund seines Hangs zum Luxus in Geldnot geraten war und daher zum gut bezahlten Verräter wurde. Wer wie Redl über viele Jahre hindurch Zugang zu brisanten Unterlagen hatte, konnte als Spion reich werden. Immerhin war er zwischen 1907 und 1911 stellvertretender Leiter des Evidenzbüros, also des Geheimdienstes der k. u. k. Armee, gewesen. Von Oktober 1912 bis zu seinem Selbstmord im Mai 1913 wirkte Redl als Generalstabschef des 8. Korps in Prag.

Großzügig gaben sich vor allem die Russen. Für sie arbeitete der k. u. k. Offizier aller Wahrscheinlichkeit nach schon vor 1903. Besonders wertvolle Informationen über die österreichisch-ungarischen Streitkräfte leitete er offenbar während der Annexionskrise 1908/09 und vor dem

Hintergrund der Balkankriege weiter. Redl, der 1912/13 genaue Angaben über österreich-Ungarns militärische Maßnahmen an der Grenze zum Zarenreich machte und unter anderem „Mobilisierungsanweisungen“ sowie die sogenannte „Kriegs-Ordre de bataille“ für alle potenziellen Konfliktszenarien verriet, erhielt für viele seiner Aufträge Zehntausende Kronen. In seinen letzten Lebensjahren konnte er daher zwei Automobile erwerben, die, gemessen an heutigen Maßstäben, einen Wert von weit über 100.000 Euro darstellten. Nichtsdestoweniger hinterließ Redl einen Schuldenberg. Der Oberst hatte trotz seiner enormen Einkünfte über seine Verhältnisse gelebt.

Gewaltig waren auch die Auswirkungen des Falls auf das Gefüge der k. u. k. Armee. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf stand kurz vor der Demission, als der Skandal rund um den spionierenden Oberst ans Tageslicht kam. Darüber hinaus hatte die Armeeführung vergeblich versucht, die ganze Angelegenheit zu vertuschen. Doch die geheimnisvollen Umstände von Redls Selbstmord – der Oberst erschoss sich in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai 1913 in einem Hotelzimmer in Wien – weckten das Interesse der Presse. Als der Leichnam des Obersten mehr oder weniger „heimlich“ in einem Grab am Wiener Zentralfriedhof „verscharrt“ wurde und sich beim Begräbnis keiner seiner ehemaligen Kollegen aus dem Generalstab blicken ließ, witterten einige Journalisten – nicht nur Egon Erwin Kisch – einen Skandal. So erfuhr die öffentlichkeit schon wenige Tage nach Redls Entlarvung und Selbstmord von dessen Spionagetätigkeit. Erregte Diskussionen lösten indessen auch die Umstände des „Freitods“ aus. Immerhin war der Spion vor seinem Suizid von einer hochrangigen vierköpfigen militärischen Kommission aufgesucht worden, die im Auftrag des Generalstabschefs handelte. Nun hatte es den Anschein, als habe man Redl dazu gezwungen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Damit nicht genug, füllten Spekulationen über das Ausmaß des Verrats und seine Folgen für das Habsburgerreich die Gazetten. Da zudem Redls homosexuelle Beziehung zu einem jungen Leutnant publik wurde, präsentierte sich die ganze Causa als alle Dimensionen sprengende Affäre. Noch dazu stand der „Fall Redl“ in einer ganzen Kette von Skandalen, die zu dieser Zeit die Donaumonarchie erschütterten. überall, bis zur Ministerebene hinauf, schienen Korruption und Amtsmissbrauch üblich zu sein. Dass sich mit dem Obersten Redl nun auch ein derart hoher Offizier des Generalstabs in die Riege „käuflicher Staatsdiener“ einreihte, warf kein gutes Licht auf den Zustand der Gesellschaft an sich. Ausländische Kommentatoren sahen sich in ihrem Urteil, wonach man sich vor allem in Wien maßloser Vergnügungssucht hingab und „Sitte und Anstand“ abgeschworen hatte, bestätigt. Andere sprachen mit Blick auf die Armee von einem „moralischen Königgrätz“.

– Verena Moritz –

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Die Angelegenheit Oberst Redl

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3. Juni 1913, Wien. Akt aus der Militärkanzlei Seiner Majestät zum Fall Redl.

Der Fall Redl

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Konvolut aus dem Präsidium des Kriegsministeriums zum Fall Redl. 1913.