Frei, gleich, männlich

Dokument 56

Dass die österreichische sozialdemokratische Arbeiterpartei Ende 1906 das allgemeine und gleiche Männer-Wahlrecht durchsetzen konnte, verdankt sie nicht allein dem taktischen Geschick Victor Adlers, sondern zuletzt auch dem Kaiser.

Victor Adlers herausragende taktische Fähigkeiten sollten im Kampf um das Wahlrecht ab Beginn der 1890er-Jahre voll zur Entfaltung kommen. Die nach einem Wahlsieg der kleinbürgerlich-demokratischen Jungtschechen schwer erschütterte Regierungsmehrheit des Grafen Taaffe legte im Oktober 1893 einen Wahlreformentwurf vor. Dieser sollte durch die Einführung des allgemeinen Männer-Wahlrechts in den Kurien der Städte und Landgemeinden den großbürgerlichen Liberalismus entscheidend treffen und gleichzeitig den kleinbürgerlichen Nationalismus durch die Aufwertung der Sozialdemokratie para- lysieren. Von der als politische Kraft zu diesem Zeitpunkt noch kaum wahrgenommenen Arbeiterbewegung wurde der Entwurf als unmittelbarer Erfolg ihrer großen Straßendemonstrationen gefeiert; die Gewerkschaften wie auch die alten Radikalen forderten vehement den Generalstreik, um die Durchsetzung der Reform zu erzwingen. Adler aber widersetzte sich dem politischen Massenstreik. Er war zutiefst davon überzeugt, dass eine Herausforderung der Militärmacht der Monarchie mit einem Desaster der jungen, noch ungefestigten Bewegung hätte enden müssen – einer Bewegung, die, wie er als Argument auf dem Parteitag 1894 einbrachte, über ganze 137 Gulden in der Parteikasse verfügte. Er stoppte die Wahlrechtsagitation, schob den Streik „auf die lange Bank des Parteitags“ und ließ sich von Engels „zu der Art, wie Du den Generalstreik in Schlummer gewiegt hast“ beglückwünschen.

Als die hervorragende wirtschaftliche Konjunktur der Jahre 1904–1907 dann den Mitgliederstand der Gewerkschaften von 190.000 auf über 500.000 und jenen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von 20.000 auf über 110.000 ansteigen ließ und die Krone zur gleichen Zeit den rebellischen magyarischen Adel mittels Ankündigung eines allgemeinen Wahlrechts für Ungarn einschüchterte, wurde der Wahlrechtskampf in vollem Umfang wieder aufgenommen. Adler schloss nun den politischen Massenstreik „als letztes Mittel“ nicht länger aus und schwenkte zugleich auf jene Linie der Bündnispolitik ein, die er 1893 noch verworfen hatte: die Allianz mit Dynastie und Bürokratie gegen das nach dem Kurienwahlrecht zusammengesetzte Parlament – ein „stiller historischer Kompromiss“ zwischen Krone und Arbeiterklasse. Es war der Kaiser, der – aus der nüchternen Erwägung heraus, dass einzig das allgemeine Wahlrecht diesem Staat den so dringend benötigten sozialen Halt gegen die zentrifugalen nationalen Tendenzen geben könne – seinen Ministerpräsidenten Gautsch drängte, ein Wahlreformgesetz vorzulegen; und es war Adler, dem im Wahlreformausschuss die Aufgabe zufiel, dieses Gesetz gegen den zähen Widerstand der historischen Parteien des Reichsrats durchzusetzen. Er entledigte sich dieser Aufgabe mit der ihm eigenen taktischen Brillanz. Die als „Kleine Internationale“ in Form einer Föderation nationaler Teilparteien organisierte Sozialdemokratie hatte sich mit ihrem Brünner Nationalitätenprogramm von 1899 auf die Neugestaltung der Monarchie als föderalistischen Bundesstaat festgelegt; jetzt tat sie, in beinahe ironischer Wendung, den ersten Schritt zur eigentlichen Staatspartei. Als im Dezember 1906 das allgemeine und gleiche Männer-Wahlrecht Realität geworden war, hatte die österreichische Arbeiterpartei ihren bisher größten Sieg errungen und sich zugleich, nicht unverdient, den Ruf einer „k. k. priv.[ilegierten] Sozialdemokratie“ erworben.

– Wolfgang Maderthaner –

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Victor Adler

Dokument 56

Der größte Erfolg in der politischen Karriere des Victor Adler, die Erkämpfung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für Männer.

Schweigemarsch

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28. November 1905, Wien. Der Schweigemarsch am 28. November 1905 der demonstrierenden 250.000 Menschen auf der Wr. Ringstraße für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Als Symbol für ihre Stimmlosigkeit verharrten die Teilnehmer in gänzlichem Schweigen.

Reform der Reichratswahlordnung 1907

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Im Mai 1907 fanden die ersten Reichsratswahlen nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht statt. Wahlberechtigt waren alle männlichen Staatsbürger ab 24 Jahren, sofern sie den Wehrdienst absolviert hatten und mindestens ein Jahr in ihrer Gemeinde ansässig waren. Stärkste Fraktion wurden die Christlichsozialen und Konservativen (96 Abgeordnete) vor den Sozialdemokraten (87).