Experiment Wien

Dokument 72

Der soziale Wohnbau in Wien (1923–1934) ist mit rund 65.000 Wohnungen und 5.000 Siedlungshäusern nicht nur quantitativ herausragend, er besticht auch durch Balance zwischen Grünfläche und Bebauung, funktionellen Wohneinheiten und kommunaler Infrastruktur. Das „rote“ Leuchtturmprojekt überdauert die Stürme der Zeit: „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen.“ (Karl Seitz, 1930).

In Wien wurden am 4. Mai 1919 erstmals Kommunalwahlen nach demokratischem Gemeindewahlrecht für Frauen und Männer abgehalten. Sie brachten der Sozialdemokratie mit 54,2 Prozent der Stimmen und 100 von 165 zu vergebenden Mandaten einen überwältigenden Erfolg. Damit beginnt eines der außergewöhnlichsten und kreativsten kommunalen Experimente der neueren europäischen Geschichte; es wird auf Zivilisierung, Kulturalisierung und Hygienisierung der Massen abzielen, also auf die umfassende Hebung ihrer lebensweltlichen und sozialen, vor allem aber kulturellen Standards. Dies bedeutet nicht nur die weitreichende Umformung einer gesamten großstädtischen Infrastruktur, die gänzliche Reorganisation der administrativen sowie technischen Funktionen der Stadt – gerade in seinen kulturpolitischen Dimensionen weist dieses Experiment weit über seinen ursprünglichen, pragmatischen Charakter eines wohlfahrtsstaatlichen und sozialpolitisch inspirierten kommunalen Modells hinaus.

Es sollte dabei nicht übersehen werden, dass das (retrospektiv so bezeichnete) „Rote Wien“ eigentlich auf einer doppelten Ironie gründet: Erst der Bruch der sozialdemokratisch dominierten Koalition auf Bundesebene 1920 und das damit verbundene Ende von Sozialisierungsprojekten oder weiterer sozialstaatlicher Maßnahmen brachten die Sozialdemokratie dazu, ihr gesamtes politisches Potenzial auf Wien zu konzentrieren. Und erst das Scheitern einer von sozialdemokratischer Seite in den Verfassungsverhandlungen stark forcierten zentralstaatlichen Lösung zugunsten einer stärkeren Autonomie der Bundesländer [Die Kelsen-Verfassung] ermöglichte es dem Bundesland Wien ab 1922, mittels partieller finanzpolitischer Souveränität eine über die Notstandsmaßnahmen und pragmatischen Notwendigkeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit hinausweisende Politik der qualitativen kommunalen Reformen zu entwickeln. Zu einem wesentlichen Teil beruhte die angestrebte Politik einer „Veralltäglichung der Revolution durch Evolution“ auf den Säulen der sozialen Fürsorgepolitik und, dies vor allem, des kommunalen Wohnbaus.

Ende November 1920 wurde Prof. Julius Tandler, ein Anatom von hohem Ansehen, zum amtsführenden Stadtrat für Wohlfahrtspflege berufen. Der aus Iglau stammende Tandler gehörte zu der verschwindenden Minorität jüdischer Professoren an der Medizinischen Fakultät und schien in der überaus prekären Nachkriegssituation in hohem Maße geeignet, eine umfassende Reorganisation des städtischen Fürsorgewesens zu unternehmen. Er sollte dies – gestützt auf ein aus den sogenannten „Breitner-Steuern“ erwachsenes, stark erweitertes Budget – mit den Mitteln der modernen Sozialtechnologie und Sozialbürokratie in ebenso origineller wie umfassender Weise umsetzen. Die Erfolge des auf einem alles dominierenden aufklärerischen Impetus und zivilisatorischen Ethos basierenden „Wiener Systems“ sind beeindruckend, ja spektakulär: Die Mehrzahl der Einrichtungen und Maßnahmen war strikt familienbezogen, sie zielten auf Hebung der Geburtenrate, der allgemeinen sanitären Standards, des elterlichen Erziehungsverhaltens, insgesamt auf ein „höheres familiales Reproduktionsniveau“. Es ist ein zutiefst aufklärerisches Projekt, das vermittels sozialer Intervention die Bedingungen für die Emanzipation des Individuums herstellen will.

Dies gilt in gleicher Weise für das eigentliche symbolische wie reale Kernstück des „Neuen Wien“: die Umsetzung eines ebenso ambitiösen wie (auch im internationalen Maßstab) einmaligen sozialen Wohnbauprogramms. Ende 1933 wurden von der Gemeinde 61.617 Wohnungen und 5.257 Siedlungshäuser verwaltet; knapp elf Prozent der Wiener Bevölkerung wohnte in ihnen. Forciert wurden gigantische innerstädtische Blockbauten, die sogenannten „Volkswohnpaläste“ – allerdings garantierte eine Maximalverbauung von 40 Prozent der Grundstücke (gegenüber 85 Prozent erlaubter Spekulationsverbauung bei den alten Zinskasernen) geräumige, begrünte und lichtdurchflutete Innenhöfe, ergänzt durch Gemeinschafts-, Freizeit- und Hygieneanlagen sowie Einrichtungen zur Kinder- und Altenversorgung. Die aus den Mitteln der Breitner’schen Wohnbausteuer errichteten Höfe begründeten tatsächlich eine neue Qualität im Massenwohnungsbau.

Dazu tritt ein weiterer Aspekt. Die insgesamt 400 Gemeindebauten wurden von knapp 200 Architekten – unter denen Absolventen der Spezialschule für Architektur Otto Wagners eine qualifizierte Majorität stellten – individuell höchst unterschiedlich realisiert. Doch nehmen sie als moderne, ihrer eigenen Logik gehorchende urbane Bauwerke allesamt den Dialog mit dem traditionellen, gewachsenen historischen städtischen Umfeld auf. Das architektonische Konzept Wagners kommt in den Arbeiten von Hubert Gessner, Josef Hoffmann, Adolf Loos, Peter Behrens, Margarethe Lihotzky, Heinrich Schmid und Hermann Aichinger, Otto Schönthal, Ernst Lichtblau u.v.a.m. exemplarisch zum Ausdruck. Es sind rationalistische, positivistische, kosmopolitische Konzeptionen großstädtischen Bauens, die sich dem sozialdemokratischen Modernisierungsprojekt ideal anpassen: ein moderner, monumentaler urbaner Stil, der zugleich an das Barock gemahnt wie auch an biedermeierliche Traditionen anschließt.

Wie groß aber auch immer die Erfolge, wie scheinbar unerschütterlich die Loyalitäten seiner sozialen Basis gewesen sein mögen – aus der wirtschaftlichen Depression der frühen 1930er-Jahre erwächst die tödliche Krise des Roten Wien. Jene von Bürgermeister Karl Seitz immer wieder angesprochenen, von der desaströsen globalen Finanz- und Spekulationskrise freigesetzten Dämonen erwiesen sich als fürchterlich effizient und nicht länger kontrollierbar; sie setzten dem für ein gutes Jahrzehnt so konkret gewordenen Wiener Experiment einer durchgängigen Modernisierung und Demokratisierung kommunalen Lebens ein abruptes Ende.

– Wolfgang Maderthaner –

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Die Neue Stadt

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Josef Luitpold Stern und O.R. Schatz, Die Neue Stadt. Festgabe an Bürgermeister Karl Seitz. 1927, Berlin.

Rabenhof

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Die städtische Wohnhausanlage Rabenhof. 1925–1928, Wien.

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Die städtische Wohnhausanlage Reumannhof, errichtet nach Plänen von Hubert Gessner. 1924–1926, Wien.

Sandleitenhof

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Die städtische Wohnhausanlage Sandleitenhof. 1925–1928, Wien.

Schlingerhof

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Die städtische Wohnhausanlage Schlingerhof, errichtet nach Plänen von Hans Glaser. 1924–1926, Wien.