"Die Suche nach dem Österreichischen führt uns unweigerlich ins Archiv“
Wolfgang Maderthaner, Generaldirektor des österreichischen Staatsarchivs
Es, Ich, Über-Ich
Dokument 71
1920 erstellt Sigmund Freud ein Gutachten zu den Behandlungsmethoden für schwer traumatisierte „Kriegsneurotiker“. Mit seiner 1900 erschienenen Traumdeutung ergründet er die Katakomben menschlicher Triebe, die Dynamik von Bewusstem, Unbewusstem und gesellschaftlich-kulturell Konnotiertem und liefert Denkanstöße, die weit über sein Fachgebiet ausstrahlen.
Gegen Ende des Jahres 1918 wurden massive Vorwürfe gegen Behandlungsmethoden laut, denen sich so bezeichnete „Kriegsneurotiker“ wie auch vorgebliche Simulanten in den Kriegsjahren zu unterziehen hatten: Man habe schwer traumatisierten Frontsoldaten, die meist mit Symptomen heftiger und krampfartiger Zuckungen am ganzen Körper („Zitterer“) eingeliefert worden waren, bewusst und vorsätzlich Qualen zugefügt, um auf diese Weise eine möglichst große Zahl neurasthenischer Patienten in möglichst kurzer Zeit erneut front- und einsatztauglich zu machen. Im Zentrum der Kritik stand die psychiatrische Klinik Wagner von Jauregg. Auf Druck der Heimkehrer-Verbände beschloss die Provisorische Nationalversammlung ein Gesetz über die Feststellung von „Pflichtverletzungen militärischer Organe im Kriege“. Eine gemäß diesem Gesetz ab März 1919 tätige Kommission stand unter der Leitung des angesehenen Juristen Alexander Löffler, zu ihren weiteren Mitgliedern zählten u.a. der Anatom Julius Tandler und nicht zuletzt Julius Wagner-Jauregg selbst.
Nachdem sich die Vorwürfe gegen den späteren Nobelpreisträger zunehmend verdichteten und auf eine unsachgemäße, zu regelrechter Folter erweiterte Anwendung elektrotherapeutischer Schockmethoden hinausliefen, ließ Wagner-Jauregg sein Mandat in der Kommission ruhen; diese leitete ihrerseits im Oktober 1919 Erhebungen gegen den wohl profiliertesten Vertreter der klassischen Wiener Schule der Psychiatrie ein. Der zum externen Fachgutachter bestellte Sigmund Freud legte seine (handschriftliche) Expertise am 25. Februar 1920 vor. Freud stand zwar der „elektrischen Heilmethode“ reserviert bis offen ablehnend gegenüber, ließ aber an der persönlichen und fachlichen Integrität Wagner- Jaureggs keinen wie immer gearteten Zweifel. Die Verhandlung endete denn auch mit einer vollständigen Rehabilitierung Wagner-Jaureggs; und doch brachte das Gutachten einen seit langem virulenten Richtungsstreit in der Wiener Psychiatrie präzise auf den Punkt.
Mit seinem – mit dem programmatischen Erscheinungsjahr 1900 versehenen – Jahrhundertbuch Die Traumdeutung hatte der Atheist und Aufklärer Freud einen „Königsweg“, eine via regia zu einem bis dahin für nicht aufklärbar gehalten Bereich, dem menschlichen Unbewussten, erschlossen. Seine radikal-aufklärerische Perspektive ist es, das verneinte, unterdrückte Unbewusste bewusst zu machen, es als versteh- und erklärbar und damit als der objektiven Analyse und Diagnose zugänglich auszuweisen. Nun steht Freud – nicht zuletzt aufgrund seiner Ausbildung bei dem Gehirnanatomen Theodor Meynert und des später weitgehend in Abrede gestellten Einflusses Josef Breuers – in der streng empirischen, rationalistischen Tradition der neueren Wiener medizinischen Schule. Die positiven Wissenschaften hatten somit die letzte Bastion erobert und selbst die menschliche Psyche einem rationalen Deutungs- und Erklärungsmodell unterworfen. Dieses Modell ist zunächst der Gedankenwelt liberaler Ökonomie entlehnt, das menschliche Individuum als psychologischer Kleinbetrieb konzipiert. Die Psychoanalyse hat die komplexe Triebökonomie, die seelische Apparatur dieses inneren Kleinbetriebs als eine vielschichtige Dynamik von Unbewusstem und Bewusstem, von Es, Ich und Über-Ich entschlüsselt. Die gesellschaftliche Kontrollinstanz des Über-Ich hält in Auseinandersetzung mit dem Ich die Triebe in den Grenzen der Selbsterhaltung. Trotz notwendiger Neurosenbildung wird dieserart ein einigermaßen freies Zusammenspiel der Subjekte, grundlegende Voraussetzung aller Marktwirtschaft, ermöglicht.
So brillant diese Rückbindung der Thesen und Verfahren Freuds an dessen ideologische und intellektuelle Herkunftskultur auch ist, seine Methode weist darüber hinaus. Der große Antimetaphysiker, Skeptiker und Relativist – der „keine höhere Instanz als die Vernunft“ anzuerkennen bereit war – hat eine deterministische Psychologie der Freiheit geschaffen. Mit der Traumdeutung hat Freud die Psychoanalyse allerdings auch und vor allem als Interpretationstechnik etabliert. Dabei bedient sich der „Jude ohne Gott“ des weit in die jüdische religiöse Lehrpraxis zurückreichenden talmudischen Forschens – eines Verfahrens der Assoziation, der dialogischen Reflexion, der Herstellung mannigfaltiger innerer Bedeutungen und Bezüge. Sein Deutungsverfahren gilt dem latenten Trauminhalt, nicht dem manifesten Traum. Der Traum, ohne selbst wahr zu sein, verweist auf die Wahrheit, und diese Verweisungsqualität macht ihn deutungsbedürftig, ermöglicht die Ableitung von Gesetzen. Die Wahrheit des Traums liegt in der menschlichen Psyche selbst begründet, schafft sich ihre Ausdrucksmöglichkeiten auf komplexen Wegen vom Unbewussten ins Bewusste. Freud hat damit ein neues Modell der psychischen Struktur eingeführt, deren unzivilisierte, irrationale, verbotene, triebhafte Aspekte, deren erotische, egoistische, zerstörerische Affekte thematisiert und eine revolutionäre anthropologische Perspektive eröffnet. Er beschreibt die de facto unbegrenzten Möglichkeiten des Unbewussten, wie er zugleich jene Grenzen, die seiner objektiven und subjektiven Bewusstwerdung gesetzt sind, festlegt.
Er hat sich dabei der historischen Methode bedient, was vielleicht in einer Stadt, die ihre Identität aus der Imagination historischer Größe bezog und ihre architektonische Neugestaltung in der Gründerzeit am historischen Vorbild ausrichtete, auch gar nicht anders möglich war. Das Gewusste resultiert bei Freud nicht aus der neuen Erfahrung, sondern aus dem Erinnerten, bereits Geschehenen. Das Wissen um Vergangenes ist der Schlüssel zum Künftigen; es erwächst aus der Entschlüsselung der verborgenen Kräfte des Unbewussten.
Freuds Einfluss auf das Denken des 20. Jahrhunderts war (über den Umweg seiner angloamerikanischen Rezeption) in der Tat gewaltig und Kulturen übergreifend. Einiger seiner epochemachenden Entdeckungen war er sich sicher: der Erkenntnisse über die grundlegende Ordnung der seelischen Struktur, des dynamischen Unbewussten, der dualistischen Triebtheorie, der Universalität des Ödipus-Komplexes, des Zusammenspiels von Konflikt, Abwehr, Verdrängung, der sexuellen Ätiologie der Neurosen. Mit den Konzepten des Tabus, der Zensur und der Regression hat er psychopolitische und emanzipatorische Meilensteine gesetzt: „Wo Es war, soll Ich werden.“
– Wolfgang Maderthaner –
Sigmund Freuds Gutachten
Dokument 71
Handschriftliches Gutachten über „Die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker“ von Prof. Dr. Sigmund Freud. 23. Februar 1920.
Dokument 71
AT-OeStA/KA FA AOK Pflichtverletzungen B 138/14a/19
Sigmund Freuds Gutachten
Dokument 71
G
Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker
von Prof. Dr. Sigm. Freud
Es hat schon in Friedenszeiten reichlich Kranke gegeben, die nach Traumen d.h. schreckhaften u gefährlichen Erlebnissen wie Eisenhahnunfälle, u.d.gl schwere Störungen des Seelenlebens u der Nerventhätigkeit gezeigt haben, ohne daß die Ärzte in der Beurteilung dieser Zustände einig geworden wären. Die einen haben angenommen, daß es sich bei diesen Kranken um schwere Verletzungen des Nervensystems handle, ähnlich den Blutungen und Entzündungen in nicht traumatischen Krankheitsfällen, und als die anatomische Untersuchung solche Vorgänge nicht nachweisen konnte, haben sie doch den Glauben, an feinere gewebliche Veränderungen, als Ursache der beobachteten Symptome festgehalten. Sie haben also diese Unfallskranken zu den organisch Kranken gerechnet.
Andere Ärzte haben von Anfang an behauptet, daß man diese Zustände nur als funktionelle Störungen hei anatomischer Intaktheit des Nervensystems auffassen könne. Wie so schwere Störungen der Funktion ohne grobe Verletzung des Organs zu Stande kommen können, bereitete dem ärztlichen Verständnis lange Zeit Schwierigkeiten.
Der eben beendete Krieg hat nun eine ungeheuer große Anzahl solcher Unfallskranken geschaffen und zur Beobachtung gebracht. Dabei ist die Entscheidung der Streitfrage zu Gunsten der funktionellen Auffassung gefallen. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Ärzte glaubt nicht mehr daran, daß die sog. Kriegsneurotiker in folge von greifbaren, organischen Verletzungen des Nervensystems krank sind, und die Einsichtigeren unter ihnen haben sich auch bereits entschlossen, anstatt der unbestimmten Bezeichnung "funktionelle" Veränderung die unzweideutige Angabe: "seelische" Veränderung einzusetzen.
Obwohl die Äußerungen der Kriegsneurosen zum großen Teil Bewegungsstörungen – Zittern und Lähmungen – waren, und obwohl es nahe genug lag, so groben Einwirkungen wie der Erschütterung durch eine in der Nähe platzende Granate oder eine Erdverschüttung auch grob-mechanische Effekte zuzuschreiben, so ergaben sich doch Beobachtungen, welche an der psychischen Natur der Verursachung der sog. Kriegsneurosen keinen Zweifel ließen. Was konnte man dagegen sagen, wenn die nämlichen Krankheitszustände auch hinter der Front, fern von diesen Schrecknissen des Krieges oder unmittelbar nach dem Einrücken vom Urlaub auftraten? Die Ärzte wurden also darauf hingewiesen, die Kriegsneurotiker ähnlich aufzufassen wie die Nervösen des Friedenszustandes.
Die von mir ins Leben gerufene sog. psychoanalytische Schule der Psychiatrie hatte seit 25 Jahren gelehrt, daß die Friedensneurosen auf Störungen des Affektlebens zurückzuführen seien. Dieselbe Erklärung wurde nun ganz allgemein auf die Kriegsneurotiker angewendet. Wir hatten ferner angegeben, daß die Nervösen an seelischen Konflikten leiden, und daß die Wünsche und Tendenzen, welche sich in den Krankheitserscheinungen ausdrücken, den Kranken selbst unbekannt, also unbewußt sind. Es ergab sich also leicht als die nächste Ursache aller Kriegsneurosen die dem Soldaten unbewußte Tendenz, sich den gefahrvollen oder das Gefühl empörenden Anforderungen des Kriegsdienstes zu entziehen. Angst um das eigene Leben, Sträuben gegen den Auftrag andere zu tödten, Auflehnung gegen die rücksichtlose Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit durch die Vorgesetzten, waren die wichtigsten Affektquellen, aus denen die kriegsflüchtige Tendenz gespeist wurde.
Ein Soldat, in dem diese affektiven Motive mächtig und klar bewußt gewesen wären, hätte als Gesunder desertieren oder sich krank stellen müssen. Die Kriegsneurotiker waren aber nur zum kleinsten Teil Simulanten; die Affektregungen, die sich in ihnen gegen den Kriegsdienst sträubten und sie in die Krankheit trieben wirkten in ihnen, ohne ihnen bewußt zu werden. Sie blieben unbewußt, weil andere Motive Ehrgeiz, Selbstachtung, Vaterlandsliebe, Gewöhnung an Gehorsam, das Beispiel der Anderen zunächst die Stärkeren waren, bis sie bei einem "passenden“ Anlaß von den anderen, unbewußt wirksamen Motiven überwältigt wurden.
An diese Einsicht in die Verursachung der Kriegsneurosen schloß sich eine Therapie an, die gut begründet schien und anfänglich sich auch als sehr wirksam erwies. Es schien zweckmäßig, den Neurotiker als Simulanten zu behandeln u sich über den psychologischen Unterschied zwischen bewußter und unbewußter Absicht hinauszusetzen, obwohl man wußte, daß er kein Simulant sei. Diente seine Krankheit der Absicht, sich einer unleidlichen Situation zu entziehen, so grub man ihr offenbar die Wurzeln ab, wenn man ihm das Kranksein noch unleidlicher als den Dienst machte. War er aus dem Krieg in die Krankheit geflüchtet so wendete man Mittel an, die ihn zwangen aus der Krankheit in die Gesundheit also in die Kriegsdiensttauglichkeit zurückzufliehen. Zu diesem Zwecke bediente man sich schmerzhafter elektrischer Behandlung und zwar mit Erfolg. Es ist eine nachträgliche Beschönigung, wenn Ärzte behaupten, die Stärke dieser elektrischen Ströme sei die nämliche gewesen, die von jeher bei funktionellen Störungen zur Verwendung kam. Dies hätte nur in den leichtesten Fällen wirken können, entsprach ja auch nicht dem zu Grunde liegenden Raisonnement, daß das Kranksein dem Kriegsneurotiker verleidet werden solle, so daß seine Motive zu Gunsten der Genesung umkippen müßten.
Diese in der deutschen Armee entstandene, in therapeutischer Absicht schmerzhafte Behandlung konnte gewiß auch in maßvoller Weise geübt werden. Wenn sie in den Wiener Kliniken angewendet wurde, so bin ich persönlich überzeugt, daß sie niemals durch die Initiative von Prof. Wagner-Jauregg ins Grausame gesteigert worden ist. Für andere Ärzte, die ich nicht kenne, will ich auch nicht einstehen. Die psychologische Schulung der Ärzte ist ganz allgemein recht mangelhaft, und mancher mag daran vergessen haben, daß der Kranke, den er als Simulanten behandeln will, doch keiner ist.
Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet. Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie, sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war selbst ein Kriegsbeamter u hatte persönliche Gefahren, Zurücksetzung und den Vorwurf der Vernachlässigung des Dienstes zu fürchten, wenn er sich durch andere Rücksichten als die ihm vorgeschriebenen leiten ließ. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges mußte auch die Tätigkeit des Arztes verwirren.
Die anfangs glänzenden Erfolge der Starkstrombehandlung erwiesen sich dann auch nicht als dauerhaft. Der Kranke, der durch sie hergestellt an die Front zurückgeschickt worden war, konnte das Spiel von Neuem wiederholen, und rückfällig werden, wobei er zum Mindesten Zeit gewann u doch jener Gefahr auswich, die gerade aktuell war. Stand er wieder im Feuer, so trat die Angst vor dem Starkstrom zurück, wie während der Behandlung die Angst vor dem Kriegsdienst verblichen war. Auch machte sich die im Laufe der Kriegsjahre rasch zunehmende Ermüdung der Volksseele und ihre sich steigernde Abneigung gegen das Kriegführen immer mehr geltend, so daß die Erfolge der besprochenen Behandlung zu versagen begannen. In dieser Konstellation gab ein Teil der Militärärzte der für die Deutschen charakteristischen Neigung zur rücksichtslosen Durchsetzung ihrer Absichten nach, was niemals hätte geschehen dürfen, die Stärke der Ströme sowie die Härte der sonstigen Behandlung wurden bis zur Unerträglichkeit gesteigert, um den Kriegsneurotikern den Gewinn, den sie aus ihrem Kranksein zogen, zu entziehen. Es ist unwidersprochen geblieben, daß es damals zu Todesfällen während der Behandlung und zu Selbstmorden in Folge derselben in deutschen Spitälern kam. Ich weiß aber absolut nicht anzugehen, ob die Wiener Kliniken auch diese Phase der Therapie mitgemacht haben.
Für das endliche Scheitern der elektrischen Therapie der Kriegsneurosen kann ich einen zwingenden Beweis anführen. Im Jahre 1918 veröffentlichte Dr. Ernst Simmel, Leiter eines Lazaretts für Kriegsneurotiker (in Posen) eine Brochüre, in welcher er seine außerordentlich günstigen Erfolge bei schweren Fällen von Kriegsneurosen durch die von mir angegebene psychotherapeutische Methode mitteilte. Dank dieser Veröffentlichung wurde der nächste psychoanalytische Kongreß in Bpest, September 1818 (sic!) von offiziellen Delegierten der deutschen, österreichischen und ungarischen Armeeverwaltung besucht, welche dort die Zusage machten, daß Stationen zur rein psychischen Behandlung der Kriegsneurotiker eingerichtet werden sollen. Dies geschah, obwohl den Delegierten kein Zweifel daran bleiben konnte, daß bei dieser schonenden, mühsamen und langwierigen Behandlung auf eine möglichst beschleunigte Herstellung der Dienstfähigkeit dieser Kranken nicht zu rechnen sei. Die Vorbereitungen für die Einrichtung solcher Stationen waren eben im Gange, als der Umsturz hereinbrach, dem Krieg und dem Einfluß der bis dahin allmächtigen Ämter ein Ende setzte. Mit dem Krieg verschwanden aber auch die Kriegsneurotiker, ein letzter, aber schwer wiegender Beweis für die psychische Verursachung ihrer Krankheiten.
Sigmund Freuds Curriculum Vitae
Dokument 71
Sigmund Freud (1856-1939) habilitierte sich 1885 an der medizinischen Fakultät der Universität Wien als Privatdozent für Nervenpathologie. Dem im Schriftgut des Ministeriums für Kultus und Unterricht vorliegenden Akt zur Habilitierung Sigmund Freuds liegen dessen eigenhändig geschriebener Lebenslauf und ein ebenfalls eigenhändig geschriebener Lehrplan bei.
Dokument 71
AT-OeStA/AVA Unterricht UM allg. Akten 623 (PA Freud, Zl. 16.040/1885 fol 05r-6r)
Sigmund Freuds Curriculum Vitae
Dokument 71
Ich bin am 6. Mai 1856 zu Freiberg in Mähren geboren. Als ich 3 Jahre alt war, übersiedelten meine Eltern nach Leipzig und dann nach Wien, in welcher Stadt sie bleibenden Aufenthalt bis heute genommen haben. – Den ersten Unterricht empfieng ich im väterlichen Hause, besuchte sodann eine Privatvolksschule und trat im Herbst 1865 in das Leopoldstädter Real- undObergymnasium ein. Die Maturitätsprüfung legte ich im Juli 1873 ab, im darauffolgenden Herbst inskribierte ich mich als ordentlicher Hörer an der Wiener medizinischen Fakultät von welcher ich am 31. März 1881 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert wurde.
In den ersten Jahren meiner Universitätszeit hörte ich vorwiegend physikalische und naturhistorische Collegien, arbeitete auch ein Jahr lang im Laboratorium des Herrn Prof. C. Claus, und wurde zweimal zur Ferialzeit in die Triester zoologische Station geschickt. Im dritten Universitätsjahre wurde ich Zögling des physiologischen Instituts, woselbst ich mich unter der Leitung des Herrn Prof. v. Brücke und der Herrn Assistenten Prof. Sigm. Exner und E. v. Fleischl mit histologischen Arbeiten insbesonders mit der Histologie des Nervensystems beschäftigt habe. Ein Semester lang hatte ich Gelegenheit im Laboratorium für experimentelle Pathologie des Herrn Prof. Brücke Thier-Versuche zu üben.
Nach erlangtem Doktorgrad versah ich durch drei Semester die Stelle eines Demonstrators am physiologischen Institute u. genoß gleichzeitig den Unterricht des Herrn Prof. E. Ludwig in chemischen besonders gasanalytischen Arbeiten. Im Juli 1882 trat ich ins Allgemeine Krankenhaus ein und diente zunächst ein halbes Jahr als Aspirant an der medizinischen Klinik des Herrn Prof. H. Nothnagel. Am 1. Mai 1883 wurde ich zum Sekundararzt an der psychiatrischen Klinik des Herrn Prof. Th. Meynert ernannt, woselbst ich fünf Monate verblieb. Nach kürzerer Dienstzeit an einer Abteilung für Syphilis wurde ich auf die 4te mediz. Abtheilung
des Hauses versetzt, auf welcher seit jeher den Nervenkrankheiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. An der 4ten mediz. Abteilung hatte ich durch sechs Wochen die Ehre den Primarius Herrn Dr. Scholz als Abtheilungsleiter zu vertreten und durch fünf Monate supplirend als Sekundararzt I Classe zu wirken. Ich diene gegenwärtig an derselben Abtheilung als Sekundarius II Classe beschäftige mich mit der Beobachtung der daselbst behandelten Nervenkranken und mit Arbeiten über Hirnanatomie im Laboratorium des Herrn Prof. Th. Meynert.
Wien 21 Januar 1885
Dr. Sigmund Freud