... die Solidarität

Dokument 90

Die Erfahrungen aus den politischen Konflikten der Ersten Republik, aus Faschismus und Weltkrieg, gepaart mit den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit (verstaatlichter Grundstoffsektor und private Konsumgüterproduktion), ebnen den österreichischen Weg einer Institutionalisierung gesellschaftlichen Interessensausgleichs in Form der Sozialpartnerschaft.

Noch während in Wien schwere Kämpfe zwischen Einheiten der Roten Armee und der SS toben, unternimmt der sozialdemokratische Baugewerkschafter Josef Battisti zusammen mit einigen wenigen Kollegen, die entweder im Untergrund tätig gewesen waren oder sich in die „innere Emigration“ zurückgezogen hatten, erste Schritte zur Wiederbegründung einer freien Gewerkschaftsbewegung. Für den 15. April 1945 wird eine Plenartagung der österreichischen Gewerkschaften in das Direktionsgebäude des Westbahnhofs einberufen, die 33 Anwesenden nehmen einen vorab akkordierten Statutenentwurf einstimmig an und schlagen den Sozialisten Johann „Schani“ Böhm als Vorsitzenden eines einheitlichen und überparteilichen Österreichischen Gewerkschaftsbundes vor; Lois Weinberger führt die christliche, der Lederarbeiter Gottlieb Fiala die kommunistische Fraktion. Die formale Genehmigung zur Neu- und Wiederbegründung erfolgt durch die sowjetische Militärkommandantur zwei Wochen später. Eine organisatorische und strukturelle Zusammenfassung der lokalen und regionalen Initiativen, die sich im Laufe des Frühsommers 1945 in den Ländern formieren, gestaltet sich, angesichts der gegebenen äußeren Umstände, zunächst überaus mühsam und aufwendig; bereits 1947 allerdings überschreitet die bundesweite Mitgliederzahl die Millionengrenze. In diesem Jahr beschließt der Nationalrat das Betriebsräte- und das Kollektivvertragsgesetz, die beide dem ÖGB Kollektivvertragsfähigkeit zuerkennen und ihn damit zu einem zentralen Akteur des ökonomischen und sozialen Wiederaufbaus werden lassen.

Man hat in dieser Zeit durchaus radikale Konsequenzen aus dem vorangegangenen dramatischen Katastrophenszenario gezogen. Als Reaktion auf die Große Depression und den daraus resultierenden apokalyptischen Weltkrieg war das marktwirtschaftliche System in der Nachkriegszeit den Kompromiss mit der Wohlfahrtsstaatlichkeit eingegangen. Unter entscheidendem Mitwirken der organisierten Arbeiterbewegung wurde ein Produktions- und Regulationssystem eingerichtet, das gleichermaßen Wachstum, soziale Sicherheit, Vollbeschäftigung und gesamtgesellschaftlichen Konsens herstellen konnte. Die Verallgemeinerung der Lohnarbeit, die volle Ausbildung der Arbeitsgesellschaft bedingten eine umfassende soziale Integration der Arbeiterschaft und die Eroberung grundlegender sozialer Rechte. Dadurch wurden Massenmärkte geöffnet, der Zugang zu den produzierten Gütern ermöglicht, eine breite Identifizierung mit dem Gemeinwesen hergestellt – eine nachhaltige Bindung an die soziale Marktwirtschaft. Die breite (wenn auch unvollkommene und frauendiskriminierende) Streuung der Einkommen und die Beförderung der Einkommensgerechtigkeit wurden zum symbolischen Leitmotiv einer ganzen Ära. Die stufenweise Anhebung des Lebensstandards der Lohnarbeitenden, Massenkonsum und endogenes Wachstum mündeten in eine langfristig währende Prosperitätsphase.

Nun hatten sich im (westlichen) Nachkriegseuropa doch recht deutlich abweichende ökonomische und politische Kulturen in einer Vielzahl von lokalen Ausdifferenzierungen entwickelt. Das wohlfahrtsstaatliche Modell der skandinavischen Sozialdemokratie etwa rückte den Staat als sozusagen dritten Vermittler in das Zentrum einer auf Kollektivvertragsverhandlungen basierenden Regulation der Einkommen. Das westdeutsche und in gewisser Hinsicht auch das norditalienische Modell einer sozial abgefederten Marktwirtschaft zielten auf die Stärkung von Mittelbetrieben und eine enge regionale Kooperation von öffentlichem und privatem Sektor. Der österreichische Weg einer Mischökonomie aus verstaatlichtem Grundstoffsektor und privater, kleinteilig organisierter Konsumgüterproduktion forcierte eine Politik des wirtschaftlichen und sozialen Korporationismus und der Institutionalisierung gesellschaftlichen Interessensausgleichs in Form der Sozialpartnerschaft. Wie die Verbände der Wirtschaft auch erwies sich der ÖGB als stabile und konsensfähige Stütze einer Mediations- und Regulationsinstanz, der zeitweise das Gewicht einer Art Gegenregierung zukam und deren Funktion als die einer „Transformation des Klassenkampfes“, als dessen Verlagerung an den Grünen Tisch (Bruno Kreisky) gekennzeichnet worden ist. Ihre Lohnpolitik orientierten die Gewerkschaften strikt an den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Aufbauwirtschaft, was das Wohlstandsniveau breiter Schichten zwar nur langsam, aber doch kontinuierlich ansteigen ließ. Die damit in die Wege geleitete tendenzielle Umverteilung der Erträge und Produktivitätsfortschritte eröffnete der Arbeiterbewegung unerwartete Perspektiven und führte zur wohl größten Machtentfaltung in ihrer Geschichte.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat der ÖGB an entscheidender Stelle die Politik eines über Lohn-Preis-Abkommen staatlich verordneten Zwangssparens mitgetragen. Ausgehend von den Betrieben der oberösterreichischen Großindustrie hat sich die Arbeiterschaft dagegen im Oktober 1950 in einer der größten Ausstandsbewegungen der Geschichte des Landes erhoben – zu einem Zeitpunkt, da der Kalte Krieg mit voller Wucht entbrannt und die Sowjetunion darangegangen war, ihre neu errungene Herrschaft über die östlichen Nachbarn Österreichs definitiv zu befestigen. Vor dem Hintergrund der fortgesetzten Sowjetpräsenz und des überproportional dimensionierten Sektors der USIA-Betriebe war die verbreitete Unzufriedenheit über das vierte Lohn-Preis-Abkommen – das die Lasten des Wiederaufbaus einseitig zuungunsten der Arbeiter- und Angestelltenschaft zu verschieben schien – in eine Streikbewegung umgeschlagen, die ungewöhnlich heftige, gewalttätige, ja bedrohliche Dimension annehmen sollte und die die KPÖ für ihre weitergehenden Ziele zu instrumentalisieren trachtete. Allein in Wien hatten sich, am Höhepunkt der Streikbewegung, mehr als 120.000 Demonstranten zu einer leidenschaftlichen Kundgebung am Ballhausplatz versammelt. Das Einschreiten von Aktivisten der Bau- und Holzarbeitergewerkschaft unter Franz Olah sowie die (nicht vorhersehbare) völlige Passivität der sowjetischen Besatzungsmacht ließen den Streik allerdings nach einer knappen Woche zusammenbrechen. Führende kommunistische Gewerkschafter wurden aus dem ÖGB ausgeschlossen, darunter dessen Vizepräsident Gottlieb Fiala. Die (überaus effiziente) gewerkschaftliche Konsenspolitik einer Realisierung sozial verträglicher Kompromisse war damit für mehrere Jahrzehnte festgeschrieben.

– Wolfgang Maderthaner –

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Gründungsdokument des Österreichischen Gewerkschaftsbundes vom 27. April 1945, Wien.