Die Kelsen Verfassung

Dokument 70

Das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 ist die zentrale normative Säule der Republik Österreich. Hans Kelsen, im Volksmund „Vater der Verfassung“, ist maßgeblich beteiligt an der Entwicklung der darin enthaltenen demokratischrepublikanischen, bundes- und rechtsstaatlichen Grundprinzipien.

Anfang November 1918 holte Karl Renner den 37-jährigen ao. Universitätsprofessor Hans Kelsen, Berater des k. u. k. Kriegsministers und des Kaisers, in die Staatskanzlei am Ballhausplatz und beauftragte ihn mit Vorarbeiten für eine neue, endgültige Verfassung (Deutsch-)Österreichs. Sie sollte die von Renner selbst rasch geschriebene provisorische Verfassung vom 30. Oktober 1918 ersetzen [Der Rest ist Österreich]. Dem Staatskanzler war klar, dass diese, unter revolutionären Umständen entstandene Verfassung unzulänglich und in vielen Punkten erweiterungsbedürftig war; Ergänzungen, die im November daran vorgenommen wurden, konnten über diesen Befund nicht hinwegtäuschen.

In den normalen Amtsbetrieb der Verfassungsabteilung der Staatskanzlei war Kelsen als wissenschaftlicher Sonderberater nicht direkt eingebunden, dort hatten Froehlich und Merkl die Routineaufgaben zu erledigen, dennoch machte er sich unverzüglich an die Arbeit und legte bereits am 8. November bei einer internen Besprechung ein Gutachten zur völkerrechtlichen Stellung Deutschösterreichs vor. Auch an der Vorbereitung einer umfangreichen Novelle zur provisorischen Verfassung, die im Dezember beschlossen wurde, arbeitete er intensiv mit. Im Jänner 1919 folgte ein weiteres Gutachten über die verfassungsrechtliche Stellung der Länder und dabei auch eine Auseinandersetzung mit der Perspektive eines Anschlusses an Deutschland. All das waren wichtige Vorarbeiten in der Verfassungsvorbereitung.

Der endgültige Auftrag, einen vollständigen Verfassungstext zu erstellen, kam dann vom Staatskanzler im Mai 1919, kurz vor dem Beginn der Verhandlungen in Saint-Germain, an denen Renner über den ganzen Sommer hinweg teilnahm. Gemeinsam mit der Verfassungsabteilung des Kanzleramtes erstellte Kelsen den Text in Rekordzeit: Am 4. Juli wurde der erste Entwurfstext nach Frankreich an den Kanzler übermittelt. Dieser Entwurf ging bereits von dem aus, was sich am Konferenztisch abzeichnete – von der Existenz eines selbstständigen Staates Österreich.

Es folgte eine Reihe weiterer Entwürfe, insgesamt sind es sechs oder sieben, die Kelsen bis September schrieb und die einen Kerntext mit verschiedenen Varianten in politisch umstrittenen Bereichen darstellen. Im Spätherbst 1919 wurden die Länder aktiv, denen der von Kelsen erstellte Vorschlag zu zentralistisch war, und brachten einen eigenen Entwurf in die Diskussion ein. Dieser fand aber heftige Kritik, nicht zuletzt auch von Kelsen, der ihn – wenngleich anonym – auch in der Presse heftig zerzauste. Anfang Jänner 1920 wurde sodann unter Berücksichtigung einiger Forderungen der Länder wiederum unter Beteiligung Kelsens von der Verfassungsabteilung des Kanzleramtes ein weiterer Text erstellt, den der zuständige Staatssekretär als „Privatentwurf Mayr“ offiziell an die Länder herantrug. Er ging im Wesentlichen auf die Kelsen’schen Varianten zurück, ja übernahm sie in weiten Bereichen auch in den Formulierungen.

Mit diesem Text beschäftigte sich nun die Provisorische Nationalversammlung bis zum Juni 1920, als die Große Koalition auseinanderbrach. Doch die Arbeit sollte nicht stillstehen, denn es wurde ein Viererkomitee eingesetzt, dem Kelsen angehörte. Dieses publizierte im Juli einen überarbeiteten Entwurf, den sodann der Verfassungsausschuss des Parlaments seiner Beratung zugrunde legte. Wieder wurde auch hier Kelsen als Experte beigezogen. In dieser Funktion war er nachweisbar ebenso aktiv wie erfolgreich und konnte eine ganze Reihe von Formulierungen in strittigen Fragen vorlegen, die der Ausschuss so annahm, wie er sie vorschlug. Schließlich mündeten diese eingehenden Beratungen in den Gesetzesbeschluss vom 1. Oktober 1920 über das Bundes-Verfassungsgesetz.

Der entscheidende Einfluss Kelsens zeigt sich unter anderem bei der Festlegung der Grundprinzipien unserer Verfassung – auch wenn diese nicht an einer Stelle aufgezählt, sondern teilweise nur aus dem Gesamtsystem erschließbar sind; Kelsens systematischer Ansatz prägt des Weiteren die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern mit der Generalklausel zugunsten der Länder, den Systemen des Zusammenwirkens bei Gesetzgebung und Vollziehung, dem großen Katalog der vollständig aufgeführten Bundeskompetenzen und der Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs zur Lösung von Kompetenzkonflikten. Die Regelung der Zusammensetzung des Bundesrats ist ein genuiner Kelsen’scher Beitrag in den parlamentarischen Verhandlungen. Vor allem aber ist das von ihm entwickelte System der Verfassungsgerichtsbarkeit hervorzuheben, das sich nicht nur über ein Jahrhundert bewährt hat, sondern das auch Vorbild für eine ganze Reihe vergleichbarer Institutionen in vielen anderen Staaten wurde.

Die Gliederung und Systematik der Urkunde ist ebenso Kelsens geistiges Werk wie der Ansatz, möglichst auf den bestehenden Verwaltungsinstitutionen aufzubauen und diese in das republikanisch-demokratische und bundesstaatliche System überzuleiten. Bedeutsam ist schließlich der methodische Hintergrund der Normen, sich streng positivistisch auf „technische Spielregeln“ für die Politik zu beschränken und möglichst keine naturrechtlichen Elemente einfließen zu lassen. Keinen Eingang in die Verfassungsurkunde fanden Kelsens Ausarbeitungen der Grundrechte, weil man sich zu diesem Thema im Parlament politisch nicht einigen konnte – ein Zustand, der in den folgenden hundert Jahren nicht vollständig überwunden werden konnte.

Damit wird Hans Kelsen wohl zu Recht als „Vater“ des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) bezeichnet, auch wenn er nicht der alleinige Autor des Gesamttextes ist. Sein bestimmender inhaltlicher Einfluss auf diese rechtliche Basis der Republik Österreich kann aber nicht hoch genug eingeschätzt werden.

– Manfred Matzka –

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Kelsen-Verfassung

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Die Verfassung der demokratischen Republik Österreich von 1920 wurde als „Kelsen-Verfassung“ zum Grundpfeiler des österreichischen Staatswesens. 1. Oktober 1920, Wien.