Der Mann ohne Eigenschaften

Dokument 53

„War er ein Körper? War er nur ein Kleid?“ so Karl Kraus 1920 über den im November 1916 verstorbenen Kaiser Franz Joseph. Im Laufe der nahezu sieben Jahrzehnte seiner Regentschaft ist
Person und Amt eins, erstarrt im bürokratischen Beschäftigungsritual eines „ersten Dieners seines Staates“, die nostalgische, der Wirklichkeit entrückte Galionsfigur einer untergehenden Welt.

Die an der Wiener Peripherie gelegene Schmelz war ein höchst unterschiedlich genutzter Ort – ein riesiges, weitläufiges städtisches Niemandsland, das sich auf ursprünglich rund 50 Hektar vom (heutigen) Neubaugürtel leicht ansteigend gegen Breitensee hin erstreckte. Eine österreichische „Schicksalslandschaft“ wie kaum eine zweite: Zur Zeit der zweiten Türkenbelagerung hatte Großwesir Kara Mustafa hier eine riesige Zeltstadt errichten lassen, 1809 hatte Napoleon ebenda die Parade seiner siegreichen Truppen abgenommen, und im Oktober 1848 war sie einer jener Orte, an denen das Ende der bürgerlichen Revolution eingeläutet wurde, als die Truppen des Fürsten Windischgrätz die am Schmelzer Friedhof verschanzten Mobilgarden sturmreif schossen und anschließend Mann für Mann niedermetzelten. Ab den späten 1870er-Jahren hielt die urbane Moderne Einzug, und im nördlichen Teil der Schmelz wurden Spekulationsobjekte, sogenannte Zinskasernen, in dichter Verbauung hochgezogen – in quantitativer Hinsicht eine der bedeutendsten Bauleistungen der Geschichte Wiens. Dennoch bleibt ein wesentlicher Teil des Gesamtareals unverbautes Brach- und Heideland, die größte „Gstättn“ Wiens – Spiel- und Tummelplatz der Vorstadtjugend, allnächtlich jedoch von den berüchtigten, gefürchteten „Platten“ aus Fünfhaus und Neulerchenfeld in Beschlag genommen.

Allem voran aber ist die Schmelz militärisches übungsgelände, ein mit schwarz-gelben Holzpfählen, später mit gusseisernen Obelisken abgesteckter Truppenübungs- und Exerzierplatz der Wiener Garnison, laut Alfred Polgar „Schauplatz zahlreicher Manöversiege der österreichischen bewaffneten Macht“. Und eben hier findet alljährlich das „glänzende und gleißende“ Spektakel der „Kaiserparade“ statt, dessen eigentlicher Sinn es sein sollte, die Idee des Vielvölkerstaates sichtbar und sinnlich erfahrbar zu machen. Eine grandiose Inszenierung des übernationalen Großreichs – Nachhall und letzter Ausklang der barocken Militär- und Rossballette aus Leopoldinischer Zeit. Der militärische Wert des Defilees der erbländischen und böhmischen Regimenter sowie der ruthenischen, polnischen, bosnischen, magyarischen Formationen war zweifellos eher gering. Doch darum ging es auch nicht: Es war vielmehr ein Akt der Selbstvergewisserung, ein einzigartiges Volksfest, das den gesamten sozialen Körper erfasste, von der in Privatequipagen vorfahrenden Hocharistokratie und Diplomatie bis hin zur vorstädtischen Elendsjugend.

In der militärischen Massenchoreografie mit ihrem strikt reglementierten, ja ritualisierten Ablauf und vor allem in der Funktion, die dem „Obersten Kriegsherrn“ dabei zukam, erschließen sich geradezu paradigmatisch Gedankenwelt, Gesinnung und Charakter eines Herrschers, dem man zwangsneurotische Pedanterie nachsagte und der im Laufe seiner beinahe sieben Jahrzehnte währenden Regentschaft in den Status eines „unpersönlichen“ Monarchen entrückt war. Im disziplinierten, gemessenen, leidenschaftslosen Beharren, im Aufgehen in der von Gott verliehenen Bestimmung und Bürde war die Person selbst sukzessive entschwunden und eigentlich nur, wie Friedrich Austerlitz in seinem berühmten Nachruf in der Arbeiter-Zeitung schrieb, die Funktion übrig geblieben. Und doch war dieser oberste Bürokrat des kakanischen, multinationalen mitteleuropäischen Staatenkonstrukts vor allem auch Soldat mit Leib und Seele, für den Armee und Militarismus den bestimmenden Machtfaktor seines Reiches darstellten. Noch zu Zeiten, da bereits wüste Nationalitätenkämpfe tobten, dekretierte er im Armeebefehl von Chlopý, dass sein Heer „gemeinsam und einheitlich, wie es ist“ bleiben solle. Gleichwohl handelte es sich dabei – unter dem Eindruck einer Reihe von verheerenden Niederlagen, für die der Kaiser zu einem guten Teil persönlich verantwortlich zeichnete – um eine eigenartige, ganz spezifische Form von Militarismus, ein Soldatentum von der Art, wie es Joseph Roth im Radetzkymarsch so meisterhaft charakterisiert hat: „Er hatte Kriege nicht gern (denn er wußte, daß man sie verliert), aber das Militär liebte er, das Kriegsspiel, die Uniform, die Gewehrübungen, die Parade, die Defilierung und das Kompagnieexerzieren. [...] Er sehnte sich nach Manövern!“

Franz Joseph I. wird in eine ära des Aufruhrs, der Revolte, der Rebellion hineingeboren. Als er, achtzehnjährig, gegen Ende des gesamteuropäischen Revolutionsjahres 1848 unter durchaus problematischen Umständen den Thron besteigt, befindet sich der habsburgische Vielvölkerstaat in Auflösung und in einem blutigen Bürgerkrieg; am Aufstand Wiens und am Abfall der Ungarn droht das Reich zu zerbrechen. So stehen am Anfang der Regentschaft dieses Kaisers der Krieg und der Terror gegen die eigene Bevölkerung; an ihrem Ende, nach beinahe sieben Jahrzehnten, steht das traumatische Inferno des industrialisierten Maschinen- und Massenvernichtungskriegs.

Eine eigenartige Unbestimmtheit, ein gelegentlich durchaus radikaler Perspektivenwechsel, das oftmals abrupte und nur schwer nachvollziehbare Changieren zwischen scheinbar unvereinbaren und unversöhnlichen Positionen, die Inkonsistenz (staats)politischer Haltungen und Zielvorstellungen, die Unbeständigkeit im Institutionellen wie im Personellen: All dies zieht sich als eine der (wenigen) Konstanten durch die gesamte Regierungszeit Franz Josephs; eine ära des beständigen Wechsels zwischen Absolutismus, Staatsgrundgesetzen und Verfassungssistierung, Konkordat und bürgerlicher Freiheit, deutscher und slawischer Dominanz, Föderalismus und Einheitsstaat. Eine theoretisch wie praktisch-politisch untermauerte Auffassung vom Staat und den Prinzipien des Regierens wird man darin nur schwerlich ausmachen können. Und doch war bei alledem der Zweck stets offenkundig: die alte Macht, das transnationale Großreich, das Primat des Dynastischen dem jeweils Neuen anzupassen, sie in das Jetzt zu transferieren und eben dadurch zu erhalten. In Franz Joseph schien so, wie Friedrich Austerlitz schreibt, das Gegenwärtige und Zukünftige mit dem Vergangenen „gleichsam verknüpft“.

Es ist ein gewaltiger Zeitraum – geprägt von fundamentalen Veränderungen im ökonomischen, Sozialen und Kulturellen –, den die Regentschaft dieses Herrschers umschließt. Franz Joseph bestieg den Thron zu einem Zeitpunkt, da die ständische Verfassung, die feudale Wirtschaftsorganisation zerfiel und sich die industrielle Moderne mit all ihren politischen und sozialen Langzeiteffekten zu etablieren begann. Die Entwicklung von Großindustrie und Großhandel, der Aufbau einer modernen Verkehrsinfrastruktur kennzeichnen Franz Josephs ära genauso wie das Auftreten einer sich selbst bewussten, selbstorganisierten Arbeiterbewegung und die zunehmende und immer gewalttätigere Nationalisierung der Massen. Es sind Prozesse des „Ungleichzeitigen“, und die nationalen Kämpfe werden das auf den unterschiedlichsten Entwicklungsniveaus befindliche Vielvölkerreich schließlich zerbrechen lassen. Als der Kaiser Ende 1916 – lediglich einen Monat nach dem spektakulären Attentat Friedrich Adlers auf den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh [Das Attentat, relativiert] – verstarb, ging nicht bloß eine ära zu Ende, sondern eine ganze Welt. Es war, in den „letzten Tagen der Menschheit“, das Ende des Hauses Habsburg, das Franz Joseph so lange hinauszuzögern imstande gewesen war.

– Wolfgang Maderthaner –

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Kaiser Franz Joseph

Dokument 53

Kaiser Franz Joseph und die Kaiserparade auf der Schmelz. 1908, Wien.