Das Attentat, relativiert

Dokument 65

Der allgemeinen Relativitätstheorie politischen Handels entsprießen mitunter merkwürdige Wechselwirkungen zwischen Macht, Moral und Zeit: wie das kaiserliche Automobil den Attentäter des österreichischen Ministerpräsidenten zwei Jahre nach dessen Tat in soeben wiedergewonnener Freiheit empfängt.

Samstag, 21. Oktober 1916, 14.30 Uhr: Dr. Friedrich Adler, Sekretär der Sozialdemokra- tischen Arbeiterpartei, feuert im Hotel Meißl & Schadn aus 30 Zentimeter Entfernung viermal auf den Kopf Karl Graf Stürgkhs. Drei Schüsse treffen und töten den Ministerpräsidenten auf der Stelle, Adler lässt sich widerstandslos festnehmen. Der Sohn des sozial-demokratischen Parteigründers hatte ein Fanal gegen den Krieg setzen wollen und sich für die individuelle, terroristische Tat entschieden. Seine „Selbstaufopferung“, so das Kalkül, sollte die latente Unzufriedenheit der Massen in bewusste politische Aktion umsetzen.

Während Victor Adler [Der Hofrat der Revolution und Frei, gleich, männlich] in den verschiedenen Stadien der Voruntersuchung den Nachweis einer erblichen manischen Depression seines Sohnes zu führen suchte, nahm dieser während der Untersuchungshaft den für ihn überaus schwer zu führenden Kampf um den Nachweis seiner vollen Zurechnungsfähigkeit auf. Er stürzte sich mit „wahrer Leidenschaft“ in die Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie und dem Empiriokritizismus Ernst Machs und nahm eine umfangreiche fachliche Korrespondenz mit seinem engen Freund aus Züricher Tagen, Albert Einstein auf. Adler war von einer als sicher geltenden Berufung auf eine Professur an der Eidgenössischen Technischen Universität zugunsten des damals noch weithin unbekannten Einstein zurückgetreten. Nunmehr vollbringt er eine beachtliche theoretische Leistung (umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, unter welchen Umständen sie zustande kam) – es war allerdings ebenso wenig die angestrebte Vollendung der Mach’schen Physik wie der Nachweis zentraler Widersprüche in Einsteins spezieller Relativitätstheorie, die er entdeckt zu haben glaubte. Einstein schrieb kurz vor der Strafverhandlung einen Brief an den Physiker Michele Besso, dessen äußerer Anlass eine Ehrenerklärung der Züricher Physikalischen Gesellschaft für Adler war. Darin heißt es: „Betont soll werden, daß A. sich in den Jahren seiner Lehrtätigkeit als selbstloser, ruhiger, arbeitsamer, gutherziger, gewissenhafter Mensch gezeigt hat, der die Hochachtung aller genoß.“ Man müsse auch anführen, dass Adler „ein gewissenhafter Denker war, der sich zur Klarheit durchzuarbeiten versuchte (mit Erfolg). Ich erhielt gerade ein in den letzten Tagen fertiggestelltes Manuskript über Relativität von ihm, in dem er mit der überzeugung des Propheten recht wertlose Spitzfindigkeiten überaus breit darlegt, sodaß ich in peinlicher Verlegenheit darüber bin, was ich dazu sagen soll. Ich zerbreche mir unaufhörlich den Kopf darüber. Er reitet den Machschen Klepper bis zur Erschöpfung.“

Das Fakultätsgutachten der Psychiater (Referent: Julius Wagner von Jauregg) fand jedenfalls in der Motivierung der Tat Adlers „nichts Wahnhaftes“, vielmehr sei der Angeklagte, wenn auch ein Fanatiker, so doch für seine Tat voll verantwortlich. Im Prozess am 18. und 19. Mai 1917 hat der Physiker und Erkenntnispsychologe Adler das Anklageverhältnis umgekehrt und die Rechtfertigung seiner Tat in eine aufsehenerregende Abrechnung mit dem Verbrechen der Massenvernichtung, mit dem habsburgischen Kriegsabsolutismus und der lethargischen, defätistischen Tolerierungspolitik des sozialdemokratischen Parteivorstands umfunktioniert. Hier sprach nicht etwa ein Wahnsinniger oder Fanatiker, hier artikulierte ein „Leidender an der Zeit“ deren konkrete Widersprüche. Die Verteidigungsrede enthüllte das Bild einer rational kalkulierenden Persönlichkeit, in der sich auf eigenwillige Weise intellektueller Relativismus mit einem bis zur Selbstaufopferung gesteigerten ethischen Absolutismus verknüpfte. Adlers Auftreten vor dem Ausnahmegericht zeigte jedenfalls einen bedeutenden Wandel in der gesellschaftlichen Macht- und Kräftekonstellation insgesamt an. Je mehr sich im Verlauf der Jahre 1917/18 der allgegenwärtige Mangel und das Elend verschärften, je mehr sich die Anzeichen militärischer Zersetzung, wirtschaftlicher Erschöpfung, revolutionärer Spannung häuften, desto bestimmter kam die politische Dimension zum Tragen: In einer nicht mehr abreißenden Serie von Streiks, Revolten und Krawallen waren die Forderungen nach sofortigem, bedingungslosem Friedensschluss stets auch mit jener nach der Befreiung Fritz Adlers verknüpft.

Der Prozess hatte mit einem Todesurteil, das binnen Kurzem in eine langjährige Haftstrafe umgewandelt wurde, geendet; unmittelbar vor Kriegsende erfolgte die Amnestie. Am Abend des l. November 1918 konnte Dr. Gustav Harpner dem sozialdemokratischen Parteitag die Mitteilung machen, dass Fritz Adler ab sofort frei sei. Die Delegierten erhoben sich spontan von ihren Sitzen und reagierten mit „tosendem, lang anhaltendem“ Applaus. über die näheren Umstände der Freilassung selbst berichtet der Literat und Essayist Anton Kuh als ein „Denkmal auf die einzig dastehende liebenswürdige Form des österreichischen Zusammenbruchs“: In jenen Tagen der österreichischen Staatsagonie war der greise und bereits schwer kranke Victor Adler, der „letzte Altösterreicher“, gezwungen, ständig zwischen Parlament, Außenministerium und Schönbrunn zu pendeln. Als Kaiser Karl einen Termin für den 2. November vereinbaren wollte und Adler dafür die Hofkarosse anbot, sagte dieser mit dem Bemerken ab, er müsse „seinen Bub“, der soeben aus der Haft in Stein freigelassen worden sei, vom Bahnhof abholen. Aber auch dafür stellte ihm der Kaiser das Auto zur Verfügung. So empfing Victor Adler seinen Sohn im Auto Seiner Majestät, fuhr mit ihm zusammen in das Ministerium des äußeren, „um ihn gleich in die neuartigen und schwierigen Parteigeschäfte einzuführen“, und hierauf nach Schönbrunn. Und während Victor Adler mit dem Kaiser verhandelte, wartete der begnadigte Attentäter im „Hofauto“.

– Wolfgang Maderthaner –

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Albert Einstein an Friedrich Adler

Dokument 65

13. April 1917. Schreiben an Dr. Friedrich Adler im Wiener Landesgericht, Alserstraße 1. Die Korrespondenzkarte weist als Absender Prof. Dr. A. Einstein, Wittelsbacherstraße 13, Berlin, aus und trägt den Stempel des Postamtes Berlin-Wilmersdorf.