Anarchie in Ottakring

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September 1911, ein mit Brandschatzung des „Pöbels“ und Gewehrfeuer seitens der Exekutive seit 1848 beispielloses Bürgerkriegsszenario im Wiener Vorstadt- bezirk: Die Teuerungsrevolte bleibt zwar Strohfeuer, zugleich aber unüberseh- bares Mahnmal sozialer Spannungen der modernen Industriegesellschaft.

Im Gefolge einer von der Sozialdemokratischen Partei für den 17. September 1911 in Wien anberaumten Massendemonstration gegen die herrschende Teuerung war es in der unmittelbaren Umgebung des Rathauses zu ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei gekommen. Nur mühsam gelang es den Sicherheitskräften, die „kompakte Masse der Exzendenten“ gegen die Bezirke Neubau und Josefstadt abzudrängen. Nunmehr begann ein Sturm durch Lerchenfelder Straße und Burggasse stadtauswärts: Bis hinauf zum Gürtel blieb keine Straßenlaterne, keine größere Auslagenscheibe unzer- stört, erste Plünderungen setzten ein. Als das treibende Element erwies sich die „Ottakringer Elendsjugend“, jene, wie die Arbeiter-Zeitung schrieb, „ganz jungen und unverantwortlichen Leute, die niemand kannte und niemand gerufen hatte“.

Der eigentliche Schauplatz dieser „Revolte der Straße“ aber sollte dann jenes als „Neu-Ottakring“ bezeichnete Rasterviertel sein, das seit den 1890er-Jahren – nach Vorbild amerikanischen modernen Städtebaus – aus dem Boden gestampft worden war. Auf dem Gürtel und in der Panikengasse wurden Straßenbahnwaggons umgeworfen und in Brand gesetzt, am Lerchenfelder Gürtel erste Barrikaden errichtet; Polizeiwachstuben wurden überfallen und demoliert, ganze Straßenzüge mit Stacheldrahtzäunen überzogen. Die eilig requirierte Militärassistenz blieb zunächst weitgehend wirkungs- und machtlos. Wie aus dem Nichts kommend, zogen sich angreifende Demonstranten blitzschnell wieder zurück, um sich an anderer Stelle neu zu formieren. Ständigen Zuzug erhielten sie von der angrenzenden Schmelz, einer riesigen „Gstättn“, die von der Armee als Truppenübungsplatz genutzt wurde [Der Mann ohne Eigenschaften]. Angeführt von ihren Müttern, von der Bezirksbevölkerung überaus wirksam unterstützt, waren es die „Kinder der steinbesäten Schmelz“ – überwiegend 12- bis 14-Jährige –, die sich in einen kurzen Rausch der Zerstörung hineinsteigerten. Die Aktionen richteten sich vornehmlich gegen die Real- und Bürgerschule am Habsburgplatz (heute Schuhmeierplatz), gegen die Impfstoffgewinnungsanstalt in der Possingergasse, gegen die Volksschulen am Hofferplatz und in der Koppstraße.

Die Schule am Habsburgplatz war bereits in den Nachmittagsstunden Ziel unausgesetzter Angriffe gewesen. Ein ausgerissener Zaunpfosten diente als Rammbock für das Schultor; Kataloge, Bücher, Hefte – alles „Papierene“ – wurden zerstört, auf die Straße geworfen und angezündet; schließlich wurde das Schulgebäude selbst in Brand gesetzt und die anrückende Feuerwehr gewaltsam am Eingreifen gehindert. Ebenso wurde das Volksschulgebäude auf dem Hofferplatz gestürmt, das massive, eiserne Umfriedungsgitter umgestürzt, an die hundert Eisenstangen abgerissen. Sie dienten als Waffen und als Werkzeug, die aus dem gemauerten Sockel herausgerissenen Ziegel als Wurfgeschosse. Auch hier wurden Bücher, Kataloge, Formulare und Hefte herausgeholt, Stück für Stück zerfetzt und auf die Straße geworfen. Aus den Papierfetzen wurde ein „Scheiterhaufen“ errichtet und unter „dem Höllenlärm eines grauenhaften Konzertes“ angezündet. In der Staats-Realschule Thalhaimergasse waren der Chemiesaal und sämtliche darin befindlichen Gegenstände zur Gänze zerstört und ebenso wie die an die Realschule Possingergasse angebaute Impfstoffgewinnungsanstalt in Brand gesteckt worden. Erstmals seit den Oktobertagen 1848 wurde in Wien auf die Bevölkerung geschossen [Frei, gleich, männlich], Franz Joachimsthaler (20) und Otto Brötzenberger (19) erlagen ihren Verletzungen. Gegen zehn Uhr abends, als Ottakring in völliger Dunkelheit lag, brachten Polizei und Militär die Lage unter Kontrolle.

Ein unvermittelt ausgebrochener, explosiver Aufstand war ebenso rasch wieder in sich zusammengebrochen, der lange Septembertag der Anarchie war zu seinem Ende gekommen. Die „Hungerrevolte“ weist in ihrer Gestalt und Dynamik über ein bloßes Aufbegehren gegen Nahrungsmittelknappheit und miserable Lebensumstände allerdings weit hinaus. Offensichtlich artikulierte sich in den Tumulten mehr als nur der Ausdruck des Vorstadtelends, mehr auch als nur die Auseinandersetzung um die Beherrschung der Straße. An den Rand und in die Peripherie gedrängt, hatten sich die Sehnsüchte nach einem besseren Leben in der Stadt für die überwiegende Mehrzahl der erst jüngst zugewanderten Migrantinnen und Migranten keinesfalls erfüllt; vielmehr fanden sie sich in Verelendung und Verfremdung wieder. In der scheinbaren Irrationalität ihrer Wut, in der anarchischen Wucht ihrer Gewalt äußert sich eine eigensinnige Logik und Rationalität. In der Zerstörung von Schrift und Schriftträgern artikuliert sich, wie vage und ambivalent auch immer, ein – wenn auch aussichtsloser – Angriff auf die symbolische Ordnung der Moderne. Es ist ein Aufbegehren gegen bürgerlichen Rationalismus, gegen Zweckrationalität und Versachlichung, welche die Hegemonie des Zentrums begründet und befestigt hatten. Dieses Aufbegehren wird in den Auseinandersetzungen um den Justizpalast im Juli 1927 mit aller Macht wiederkehren [Der Tag des Feuers].

– Wolfgang Maderthaner –

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Polizeibericht über bevorstehende "Teuerungsrevolte "

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Polizeibericht vom 12. September 1911 über die für den 17. September geplante Abhaltung einer großen Demonstration gegen die Teuerung, einer Aktion der sozialdemokratischen Arbeiterpartei

„Teuerungsrevolte“

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17. September 1911, Wien. Die Demonstration vor dem Rathaus gerät außer Kontrolle.

Hoch die Revolution!

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Die Jugendlichen des September 1911 am Denkmal des großen Aufklärers Joseph Freiherr von Sonnenfels.

"Teuerungsrevolte"

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17. September 1911, Wien. Die bewaffnete Macht zur Niederschlagung des Aufstandes mobilisiert.

Niederschlagung des Aufstandes

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17. September 1911, Wien. Die Exekutive bringt sich in Stellung.

Zurückdrängung des Aufstandes

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17. September 1911, Wien. In Ottakring wird die bewaffnete Macht zur Niederschlagung des Aufstandes mobilisiert.

Großdemonstration gegen die herrschende Teuerung

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17. September 1911, Wien.

"Teuerungsrevolte"

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17. September 1911, Wien. Straßenszene während des Aufstandes gegen die herrschende Teuerung.