Kontinent am Abgrund

Dokument 41

Zwei Jahrzehnte lang drückt Napoleon Bonaparte – General, Konsul, Kaiser – ganz Europa seinen Stempel auf: Er installiert das bürgerliche Recht und revolutioniert die Kriegsführung. Die zwei Jahrzehnte napoleonischer Kriege allerdings und die Niederlage des „Erben der Revolution“ am 18. Juni 1815 in Waterloo machen eine Neuordnung Europas unumgänglich.

Die Französische Revolution stellte dem feudal-absolutistischen europäischen Machtgefüge das aus der Aufklärungsphilosophie entwickelte bürgerliche Naturrecht entgegen; die darauf basierenden Forderungen nach einer gänzlichen Neugestaltung der Gesellschaft waren fundamental und von eruptiver Gewalt. Die Menschen- und Bürgerrechte proklamierten die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und die Freiheit des Individuums, insbesondere Glaubens- und Gewissensfreiheit, Gewerbefreiheit, Freizügigkeit. Die Gesetzgebung sollte einer gewählten Volksvertretung überantwortet, Gutsherrschaft und Zünfte sollten aufgehoben, die Privilegien des Adels und der Kirche für nichtig erklärt werden. Im Namen dieses Rechts führte das revolutionäre Frankreich den Krieg gegen das Ancien Régime, und die überkommene gesellschaftliche Ordnung wurde hinfällig: In den Napoleonischen Kriegen zerfällt das Heilige Römische Reich, die aus der Revolution hervorgegangene bürgerliche Rechtsordnung wird europaweit installiert.

Napoleon, der im Gefolge des Staatsstreichs vom 18. Brumaire (9. November) 1799 zum Ersten Konsul der Republik aufgestiegene „Erbe der Revolution“, krönte sich 1804 selbst zum französischen Kaiser, war ab 1805 König von Italien und von 1806 bis 1813 Protektor des Rheinbundes. Damit hatte das Heilige Römische Reich (zu diesem Zeitpunkt, gemäß Metternichs berühmtem Diktum, weder heilig, noch römisch, noch Reich) zu existieren aufgehört. Napoleon ist zweifellos eine der überragenden Figuren der Weltgeschichte, Goethe bezeichnete ihn als „der größte Verstand, den die Welt je gesehen“. Er gab den Anstoß zu einem nicht mehr umkehrbaren Modernisierungsschub, etablierte den aus der Philosophie der Aufklärung hervorgegangenen Code civil, revolutionierte im Kampf gegen das Ancien Régime die Kriegsführung. Sein in jeder Hinsicht überdehnter Russlandfeldzug wurde ihm schließlich zum Verhängnis – ein Weg, der über die Völkerschlacht bei Leipzig, das Exil in Elba und die erneute Herrschaft der „Hundert Tage“ in das historische Desaster von Waterloo und die Isolierung des Exils auf St. Helena führte.

Mit der schließlichen militärischen Niederlage des als unbesiegbar geltenden Napoleon setzte allerdings schließlich erneut eine umfassende Restauration ein, wenn auch keinesfalls eine simple Wiederherstellung der alten Verhältnisse. Es galt, die Verheerungen und Verwüstungen eines zwei Jahrzehnte währenden Kriegs, der Europa an den Rand der Selbstzerfleischung geführt hatte, zu bewältigen. Denn eine weitere kriegerische Auseinandersetzung auf dem Kontinent hätte mit großer Wahrscheinlichkeit in das Desaster einer gesamteuropäischen Revolution nach französischem Modell gemündet; die Schaffung einer möglichst stabilen Friedensordnung stellte sich demgemäß mit der höchsten Dringlichkeit.

Der Wiener Kongress der Jahre 1814/15 [Die Erfindung Europas] schuf, in Reaktion auf die dramatischen Erschütterungen der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege, ein hochkomplexes, bis ins letzte Detail ausbalanciertes, diplomatisch akribisch abgestimmtes europäisches Staatensystem. Ziel dieser größten diplomatischen Versammlung aller Zeiten, ein wahrhaft welthistorisches Ereignis, war die Neuordnung Europas gemäß den Prinzipien eines Gleichgewichts der Kräfte und der unhinterfragten monarchischen Legitimität. Damit wurde der Grundstein für eine stabile, langfristig währende europäische Friedenskonstellation gelegt – wenn auch um den Preis innerer polizeistaatlicher Repression und einer Hegemonie Russlands über Ost- und Südosteuropa. Bis hin zu den Balkankriegen der Jahre 1912–1914 – ihrerseits das Vorspiel eines ersten globalen Vernichtungskriegs – blieben die militärischen Konflikte das gesamte 19. Jahrhundert über weitgehend begrenzt und von sozusagen bloß regionaler Bedeutung. Der Wiener Kongress entwickelte eine Art des Krisenmanagements und der Friedenssicherung, die – nicht ohne Berechtigung – als historisches Vorbild für die Institutionen der Europäischen Union gelten kann.

– Wolfgang Maderthaner –

Mehr Weniger

Napoleon an Franz

Dokument 41

Schreiben Napoleons an Franz I., Kaiser von Österreich. 23. September 1804, Mainz.

„Völkerschlacht“ bei Leipzig

Dokument 41

Oktober 1813, Wien. Eigenhändig gefertigte Skizze von Klemens Fürst Metternich zur „Aufstellung der Armeen“ in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig.