Die Kodifikation des Rechts aus dem Geist der Aufklärung

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Das am 1. Jänner 1812 in Kraft getretene Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erblande der österreichischen Monarchie blieb bis zum heutigen Tag in wesentlichen Geltungsbereichen des Zivilrechts österreichs erhalten. Dies bürgt für Qualität wie für Weitblick.

Die Entstehung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), das ab 1. Jänner 1812 für die gesamten deutschen Erblande der österreichischen Monarchie in Geltung steht, ist nur aus dem politischen Koordinatensystem zwischen überkommener Standesverschiedenheit und bürgerlicher Rechtsgleichheit zu verstehen. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist auch in österreich geprägt vom allmählichen Verschwinden ständischer Privilegien. Die Rechtsentwicklung nimmt darauf ab ca. 1770 ausdrücklich Bezug. Das ABGB kann historisch als ein eigentümlicher politisch-gesellschaftlicher Kompromiss bezeichnet werden, in dem die Spuren des Alten noch deutlich zu erkennen sind, in dem sich aber das Neue – angetrieben von aufklärerischen Gedanken – noch sehr viel deutlicher zeigt.

Der europäischen Aufklärung und explizit auch den Gedanken Kants folgend, kommt es mit dem ABGB zur Emanzipation des Rechts von sittlichen Zwecken (Unterscheidung von Recht und Moral) und von materialen Zwecken. Das Recht beschränkt sich also auf die Regelung externer Beziehungen der Menschen untereinander. Für das ABGB ist es deshalb eine selbstverständliche Voraussetzung, dass die Rechtsfähigkeit/Willensfreiheit als das einzig angeborene Recht anerkannt wird – und dieses Recht kann weder verloren noch veräußert werden. Gleichzeitig wird, ein Grundzug aller bürgerlichen Rechtskodifikationen bis heute, die Koexistenz von formeller Rechtsgleichheit und materieller Ungleichheit bejaht.

Das ABGB versteht sich von allem Anfang an als ein unvollständiges Gesetzbuch. Es mutet dem Richter sowohl Auslegung als auch Ergänzung zu und verweist ihn direkt auf die subsidiären Rechtsquellen. Mit dem römischen Recht will es nichts mehr zu tun haben. Gewohnheiten sollen nur noch dann Rechtsgeltung beanspruchen dürfen, wenn das Gesetz auf sie verweist. Ausdrücklich werden auch die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ (§ 7 ABGB) als eine aus dem Gedankengut der Aufklärung bezogene Rechtsquelle erwähnt. Das ABGB enthält einige der schönsten und bedeutungsvollsten Sätze der Rechtsgeschichte. Sein § 16 sagt uns bis heute: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ Durch § 17 wird ausgesprochen: „Was den angebornen natürlichen Rech- ten angemessen ist, dieses wird so lange als bestehend angenommen, als die gesetzmäßige Beschränkung dieser Rechte nicht bewiesen wird.“ Und seit 1811 heißt es in § 39 ABGB: „Die Verschiedenheit der Religion hat auf die Privat-Rechte keinen Einfluß, außer in so fern dieses bey einigen Gegenständen durch die Gesetze ins besondere angeordnet wird.“ Hier werden durch das ABGB zivilisatorische Positionen bezogen, hinter die nur bei Strafe der Barbarei zurückgeschritten werden darf.

Die Geltung des ABGB ab dem 1. Jänner 1812 ist noch durch eine Vielzahl von persönlichen und sachlichen Vorbehalten stark eingeschränkt; die Stände hatten sich stellenweise durchgesetzt. Doch es ist das bürgerliche, abstrakt-allgemeine Recht, das damit auf solide Beine gestellt wird – auch wenn es sich erst später, in den 1860er-Jahren nach völliger Aufhebung des Lehensinstituts, voll entfalten kann.

Das ABGB bringt den Rechtsstaat auf den Weg, lange bevor die parlamentarische Demokratie in österreich eine politische und soziale Grundlage findet. Es ist neben dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 und in direkter Nachfolge zum Code Napoléon von 1804 eine Kodifikation des aufklärerischen Rechtsdenkens, und es gehört zu den bedeutendsten Gesetzeswerken der Neuzeit überhaupt. Lange vor dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 und dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch von 1907 stellt es die keimende bürgerliche Gesellschaft durch die darin festgelegte Rechtsgleichheit der Untertanen und die Eigentumsfreiheit auf eine der Aufklärung verpflichtete und gleichzeitig rechtliche Basis. Dass die österreichische Monarchie in der Nachfolge nicht imstande ist, diese Rechtsgrundlage für die Herausbildung einer modernen gesellschaftlichen Entwicklung zu nutzen, hat vielerlei Gründe – an den Verfassern des ABGB (vornehmlich Martini und Zeiller) liegt es nicht. Sie tun beim Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert, was dem Geist ihrer Zeit gemäß ist. Dass wesentliche Teile des ABGB nach über 200 Jahren in österreich auch heute noch in Geltung stehen, dass es also von erstaunlicher Langlebigkeit ist, und dass das ABGB in Folge eine Vielzahl von Rechtsordnungen beeinflusst und eine bemerkenswerte Ausstrahlungskraft besitzt, ja dass es sogar den nationalsozialistischen Angriffen in den Jahren 1938 bis 1945 standhält – das sind Ausweise sowohl der legistischen Qualität als auch der weltanschaulichen Kraft dieser Kodifikation.

– Alfred J. Noll –

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Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch

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Entwurf zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch mit Bemerkungen von Hofrat Franz von Zeiller, der als der eigentliche Schöpfer dieses juridischen Jahrhundertwerkes gilt. 2. August 1809. Beschädigt beim Brand des Justizpalastes 1927.