Modern times #1

Dokument 26

Mit der Reformpolitik Maria Theresias in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet das Gedankengut der Aufklärung in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft seinen Niederschlag. Nicht zuletzt die Schulreform gilt als Fingerzeig möglicher Selbstbestimmung jenseits von Geburt und Stand.

Die im frühen 18. Jahrhundert erlassene, später als Pragmatische Sanktion bekannt gewordene Abfolge von Gesetzen markiert einen entscheidenden Wendepunkt im Macht-, Staats- und Selbstverständnis der Dynastie Habsburg. Und zwar weg von der Berufung auf den symbolischen Universalismus des Heiligen Römischen Reiches hin zu einem um die Kernländer gruppierten, einheitlich-zentralistischen Territorialstaat – einem „Totum“, wie es bereits Prinz Eugen Leopold I. gegenüber als Zielvorstellung formuliert hatte. Die (endgültige) Entmachtung der Stände, die Zentralisierung der Verwaltung, der Aufbau einer funktionsfähigen, professionellen Bürokratie und eines stehenden Heeres auf Grundlage des Konskriptionssystems kennzeichnen diesen Prozess. Während aber die fürstliche Gewalt in den Erblanden absolut gestärkt und die Gegenreformation zum Sieg geführt wird, wird die römisch-deutsche Kaiserwürde sukzessive zum inhaltsleeren Titel. Die protestantischen Länder Norddeutschlands erringen de facto ihre vollständige Unabhängigkeit; in Preußen erwächst mit Friedrich II. ein ebenso bedeutender wie aggressiver Konkurrent.

Die demütigende Niederlage im Erbfolgekrieg (1740–1748) gegen den Hohenzoller’schen Erzrivalen – mit gerade einmal einem geschätzten Drittel der Finanzkraft und einem Sechstel der Bevölkerung – führte zum Verlust Schlesiens und und seines Handelszentrums Breslau. Das beraubte das Habsburgerreich nicht nur einer prosperierenden und ökonomisch hoch entwickelten Provinz, sondern stellte das weitere Schicksal der Dynastie überhaupt zur Debatte – umso mehr, als die neue böhmische Hocharistokratie sich bei erster Gelegenheit durchwegs als illoyal erweisen sollte. Schlesien konnte, trotz einer Allianz mit Frankreich und Russland und erdrückender numerischer Überlegenheit – die mit ungeheuren Verlusten einherging – auch im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) nicht zurückerobert werden. Ein doppelter Schock und Auslöser für Maria Theresias umfassende, von den Kanzlern Haugwitz und Kaunitz administrierte Staatsreform mit dem Ziel einer nachhaltigen Modernisierung und kompletten Reorganisation des Regierungs- und Staatsapparats.

Was in den sozialen und ökonomischen Entwicklungen seit Jahrzehnten angelegt war, wird durch die Theresianischen Reformen zu konkretem, „gesatztem“ Recht. Die Ständeversammlungen verkommen zu symbolischen Inszenierungen ohne reale politische Kompetenzen, die alten ständischen Sondergebilde verschwinden, die durch die Pragmatische Sanktion für unteilbar erklärten Länder werden zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsgebiet zusammengefasst, aus einem Konglomerat von „Landschaften“ entwickelt sich ein seiner Tendenz nach territorial integriertes Staatsgebiet. Seit der Aufhebung der böhmischen Reichskanzlei 1749 regieren in den Ländern der Böhmischen Krone wie in den Alpenländern dieselben Zentralbehörden; unter der „Kaiserin“ beginnen zudem – auf der Basis des römischen Rechts und beeinflusst vom bürgerlich-aufgeklärten Naturrecht – die Kodifikationsarbeiten zu einer Vereinheitlichung des Rechtswesens, das den Bedürfnissen „moderner“ Produktions- und Reproduktionsverhältnisse angepasst ist. Der Zentralisierung entspricht die angestrebte Germanisierung, und 1755 werden die böhmischen und die Alpenländer (mit Ausnahme Tirols) zu einem Zollgebiet – einer Art Freihandelszone – vereinigt, in der sich sehr früh schon Spezialisierung und Arbeitsteilung herauskristallisieren: Wolle und Glas in Böhmen, Tuch in Mähren, Eisen in der Steiermark, Galanterie- und Luxuswaren in Wien.

Ein weiterer Faktor gewinnt im Prozess der Staatsbildung signifikante Bedeutung: Zum einen hatte der Siebenjährige Krieg die Monarchie mit überaus hohen Schulden belastet. Zum anderen bot die Erbschaft nach Franz I. Stephan von Lothringen – Gemahl Maria Theresias, römisch-deutscher Kaiser seit 1745 und hervorragender Finanzmanager – der Dynastie einen erweiterten finanziellen Spielraum. Sobald also das Staatsvermögen dramatisch überschuldet war, schieden die Habsburger ihr bis dahin nicht gesondert ausgewiesenes Familienvermögen aus – und schufen damit erst den Staat als ein selbstständiges, vom Landesfürsten unterschiedenes Vermögenssubjekt: den Staat als juristische Person also. Nicht der Staat, so könnte man pointiert formulieren, hat die Staatsschuld begründet, sondern vice versa die Staatsschuld den Staat. Zugleich wurden damit, in ihren ersten effizienten Ansätzen, das Bankenwesen und die Börse begründet – zentrale Instrumente der „ursprünglichen Akkumulation“, Voraussetzung zur Anhäufung großer Vermögen, Basis der partiellen, antifeudalen Interessenkoalition zwischen fürstlichem „Absolutismus“ und einem (hierzulande häufig – etwa aus der Schweiz oder aus England – importierten) unternehmenden Bürgertum.

Was auch immer jeweils die genaueren Intentionen Maria Theresias gewesen sein mögen: In den 1770er-Jahren gab es praktisch keinen Bereich des öffentlichen und politischen Lebens, der von ihren Reformen unberührt geblieben war – von der Bildung über die Landwirtschaft bis zur Rechtsordnung, von der Wirtschafts- und Infrastruktur- bis hin zur Kirchenpolitik. Es würde diesem enormen Reformwerk allerdings nicht gerecht werden, wollte man es ausschließlich nach seinen organisatorischen, administrativen oder finanzund steuertechnischen Aspekten beurteilen. Denn in wesentlichen Punkten greift es weit darüber hinaus. Das aufgeklärte Denken des 18. Jahrhunderts stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wohlstand von Gesellschaften und ihrer militärischen Stärke her. Es galt somit, die Produktivität des zentralen Faktors der zeitgenössischen Volkswirtschaften – der nach wie vor in feudalen Abhängigkeitsverhältnissen verharrenden Bauernschaft – markant zu erhöhen, und damit letztlich ihre Steuerleistung. In diesem Kontext ist auch die Schulreform Maria Theresias zu sehen, die auf die unteren sozialen Schichten abzielte; vor allem aber auch ihr Reformwerk zugunsten einer hörigen, ihrer Grundherrenklasse scheinbar unabänderlich ausgelieferten Bauernschaft. Damit stellte Maria Theresia die traditionellen, angeblich gottgewollten sozialen Hierarchien infrage und deutete – ob ihr und ihrem Beraterstab dies nun bewusst gewesen sein mag oder nicht – die Möglichkeit einer alternativen Ordnung jenseits von Stand und Geburt an.

Es ist ein völlig neues Verständnis des Individuums, das hier – wenn auch nur vage und verschwommen – erste Gestalt anzunehmen beginnt; eine Transformation vom Untertanen hin zum Staatsbürger, dessen Rechte und Pflichten aus einer unmittelbaren, nicht der Grundhoheit unterworfenen (nicht „mediatisierten“) Beziehung zum zentralisierten Einheitsstaat erwachsen. Zwar stand die wenig später von der Französischen Revolution so vehement eingeforderte Kategorie der „Gleichheit“ vor Staat und Gesetz niemals zur Debatte, doch einige wesentliche Aspekte der theresianischen Reformpolitik weisen in eben diese Richtung. Maria Theresias Söhne Joseph II. und Leopold II. werden daraus durchaus radikale Schlussfolgerungen ziehen.

– Wolfgang Maderthaner –

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Politisches Testament Maria Theresias

Dokument 26

„Memoire von Ihrer Majestät der Kaiserin von allem was sie seit Antritt ihrer Regierung unternommen und angeordnet hat“: Das „politische Testament“ Maria Theresias, 1750/51.