Die Rettung des Abendlandes

Dokument 20

Die zweite Belagerung Wiens im Sommer 1683 seitens der osmanischen Streitmacht unter dem Großwesir Kara Mustafa endet nach zwei Monaten erbittertem Stellungskrieg und harten Entbehrungen für Zivilbevölkerung wie Krieger beider Fronten mit einem Triumph des christlichen Entsatzheers.

Eine definitive Entscheidung in der welthistorischen Konfrontation zwischen Hofburg und Hoher Pforte wird gegen Ende des 17. Jahrhunderts anstehen – gleichsam als triumphale Apotheose des von den Habsburgern gegen die Reformation geführten Kreuzzuges. Sie findet vor dem Hintergrund schwerer Auseinandersetzungen des magyarischen Adelsparlaments mit der Krone statt, die in ihrem Bestreben, Absolutismus wie Katholizismus durchzusetzen, die ungarische Verfassung gebrochen und den Reichstag weitgehend ausgeschaltet hatte. Der habsburgische Regent Kaiser Leopold I., bigott und von durchaus ambivalentem Charakter, war von einem korrupten Hofstaat und einer mächtigen Hofgeistlichkeit umgeben – allen voran der spanische Franziskaner Royas y Spinola und die italienischen Kapuziner Sinelli und Marco d’Aviano, deren Macht, wie der venezianische Gesandte am Wiener Hof schrieb, weit „über die Grenzen des Gewissens hinaus“ reichte. Die Erhebung des ungarischen Adels wurde mit einer gegenreformatorischen Offensive beantwortet; die protestantischen Bürger der oberungarischen Freistädte (wie z.B. Sopron) sollten für die Rebellion der Magnaten büßen. Die Glaubensverfolgung erwies sich aber als wenig produktiv – vielmehr trieb sie die Bürger und Bauern in die Hände des aufständischen Adels, dessen militärischer Arm – die Kuruzzen – sich gegen den Kaiser erhob: 1682 befand sich de facto ganz Oberungarn in den Händen des Kuruzzenführers Imre Graf Thököly. Als im Jahr darauf die Türken einbrachen, stießen sie demnach auf keinerlei nennenswerten Widerstand, und der Palatin Graf Esterházy musste dem Kaiser melden, dass sich nirgendwo Loyalität mit dem Herrscherhaus zeige und sich die wenigen noch verfügbaren Truppen auf der Flucht befänden: „Eure Majestät hat hier an meiner Seite keine Menschenseele, die zum Dienst bereit wäre.“

Vor diesem Hintergrund ist die militärische Leistung des türkischen Oberbefehlshabers Großwesir Kara Mustafa umstritten. Anstatt die zunächst völlig desorganisierte Stadt im Handstreich zu nehmen (noch am Tag der Flucht des Kaisers stand keine einzige Kanone auf den Wällen Wiens), anstatt seine brillante und gefürchtete Kavallerie einzusetzen, nutzt er sie zur großen Spekulation. Er verfolgt den endlosen Flüchtlingsstrom, der Richtung Semmering zieht und wirft Tausende niederösterreichische Bäuerinnen und Bauern auf die kleinasiatischen Sklavenmärkte, wo die Preise allerdings sofort ins Bodenlose fallen. Kara Mustafa richtet sich indes auf eine lange Belagerung ein. Immer und immer wieder lässt er seine multinationalen Elitetruppen – die Janitscharen – auf dem immer gleichen, von Schützengräben durchzogenen Areal anrennen; in diesem Niemandsland vor den Wällen türmen sich die verwesenden Leichen zu meterhohen Hügeln, deren Gestank in unerträglicher Weise über dem gesamten Kampfgebiet liegt. Eine neue Waffe, die Handgranate, wird im Nahkampf eingesetzt; Kanonen, Mörser und riesige Minensprengungen verwandeln die Befestigungsanlagen in eine einzige Felsen- und Karstlandschaft. Die Verluste der Verteidiger liegen bei vierzig Prozent.

Noch zu einem Zeitpunkt, da Wien endgültig zu fallen drohte, da die Sprengung des Hauptwalls unabwendbar geworden schien, stritten, feilschten und intrigierten die zur Befreiung der Stadt versammelten christlichen Fürsten – ging es doch um nicht weniger als die historische Rolle eines „Retters des Abendlandes“. Am 12. September 1683 schließlich, in allerletzter Stunde, feierte das von Kaiser und Papst aufgestellte Entsatzheer unter der formalen Führung des Polenkönigs Jan III. Sobieski einen überzeugenden Sieg über die von Seuchen wie von physischer und psychischer Überlastung bereits stark geschwächten Besatzer. Als der eigentliche Kopf hinter der auf unübersichtlichem, überaus schwierigem Terrain geschlagenen, den gängigen militärisch-strategischen Usancen des 17. Jahrhunderts diametral zuwiderlaufenden Kesselschlacht erwies sich Herzog Karl von Lothringen, ein wienerischer Franzose, in dessen Gefolge sich als Volontär auch Prinz Eugen befand. Die osmanische Expansion war gestoppt, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil sie an ihre logistischen, strategischen und strukturellen Grenzen gestoßen war. Bis zu 100.000 Menschen sollen im Zuge des Unternehmens getötet oder in die Sklaverei verschleppt worden sein, weite Landstriche südlich der Donau waren verwüstet, die Wiener Vorstädte niedergebrannt, Tausende von Behausungen zerstört; große Teile des östlichen Niederösterreich mussten neu besiedelt werden.

Man hat im Übrigen bei der Aufteilung der Beute und der legendär gewordenen Reichtümer, die das Türkenheer hinterließ, auf die Verteidiger Wiens keinesfalls vergessen. Von den rund 6.000 Überlebenden bekam jeder etwas mehr als vier Gulden als Anerkennung. Die Bäckergesellen, die in ihrer nächtlichen Arbeit etliche drohende Minenangriffe entdeckt und vereitelt hatten, erwarben zudem das Privileg, auf allen Plätzen und Gassen der Hauptstadt jederzeit nach Belieben dem Kegelspiel nachgehen zu dürfen.

– Wolfgang Maderthaner –

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Bündnis zwischen Kaiser Leopold I. und König Johann III. Sobieski

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31. Mai 1683, Warschau. Offensiv- und Defensivbündnis zwischen Kaiser Leopold I. und König Johann III. Sobieski von Polen gegen die Türken, inseriert in die Ratifikation König Johanns III.